GOMADINGEN-OFFENHAUSEN. Fröhliches Kinderlachen war in der Gestütsgemeinde Offenhausen zu hören, wenn die Schützlinge von Liselotte Vonier-Stock mit ihren Betreuerinnen zur Lauterquelle oder in Richtung Sternberg unterwegs waren. Sie kamen aus dem Entbindungs- und Säuglingsheim, das die Tübingerin 1949 eröffnet hatte und mit Idealismus, Hingabe und Leidenschaft 30 Jahre lang betrieb und das im Ort sehr geschätzt wurde.
Liselotte Vonier, 1916 geboren, hatte zehn Jahre zuvor, 1939, ihre Ausbildung als Hebamme abgeschlossen, den Piloten Alfons Vonier geheiratet und mit ihm die beiden Söhne Gernot und Michael gehabt. Nach dem Krieg trennte sie sich von ihrem Mann und entschied sich, eine eigene Existenz aufzubauen, auf eigenen Beinen zu stehen. Couragiert nutzte sie die von ihrem Vater Dr. Wolfgang Stock geerbte Sommervilla in Offenhausen, ließ sie für ihre Pläne entsprechend umbauen, später auch erweitern.
Der Mediziner hatte 1921 von der Universität Jena an den Lehrstuhl für Augenheilkunde an der Eberhard Karls Universität Tübingen gewechselt und war zum Direktor der dortigen Universitäts-Augenklinik ernannt worden. Von dieser Zeit an war die Neckarstadt der neue Wohnsitz der Familie. Stock, seine Ehefrau Marthe, geborene Asselin, und die vier Kinder Helga, Wolfgang, Liselotte und Dora gehörten somit zu den »höheren Kreisen, zur guten Gesellschaft«, besaßen zudem ein Sommerferienhaus auf der Schwäbischen Alb.
»In deren Kreisen bekam niemand was von der Entbindung mit«
Vielleicht war das Liselottes Sprungbrett und mit ursächlich für ihr außergewöhnliches Ziel: ein Entbindungs- und Säuglingsheim in Offenhausen, meint ihre Nichte Sybille Knöbel. Vonier-Stock gewährte Mädchen aus sehr gutem Hause, die ungewollt schwanger waren, Unterkunft in ihrer Villa vor, während und nach der Entbindung. Noch in den Nachkriegsjahren war es für Familien eine Schande, wenn eine Tochter ledig ein Kind zur Welt brachte. Darüber sei nicht gesprochen worden und die werdende Mutter erst mal von der Bildfläche verschwunden, also »auf Reisen geschickt«, erinnert sich Knöbel.
Nach Offenhausen ins Geburtshaus ihrer Tante Lille, wie Liselotte von der Verwandtschaft genannt wurde. »Das war ideal, die Mädchen waren dort hervorragend aufgehoben. In deren Kreisen bekam niemand was von der Entbindung mit. Sie hat viel Gutes für die Mädels getan«, stellt sie fest. In dieser Zeit hätten die jungen Frauen – neben Praktikantinnen und Frauen aus dem Ort – auch mitgeholfen, sich nützlich gemacht in dem großen Haushalt. Sei es beim Putzen, beim Versorgen der Säuglinge und Kinder, was eben alles so anfiel.
»Ich erinnere mich noch an Gretel aus Bayern, die ›goldene Seele‹. Sie hat dort entbunden und ist mit ihrer Tochter geblieben«, weiß eine Frau aus einer Gemeinde an der Lauter, die lieber anonym bleiben möchte. Jene Gretel habe den Posten der Köchin übernommen, aber auch sonst mit angepackt und unterstützt. Die Brezeln mit Kakao am Samstagabend und ihr selbst gebackener, sonntäglicher Hefezopf waren heiß begehrt und zur Tradition geworden.
Die Frau selbst hatte hierher geheiratet und brachte unter der Obhut von Vonier-Stock vier Kinder zur Welt. »Das bedeutete jedes Mal zehn Tage Wochenbett und ich habe das genossen. Der absolute Luxus«, freut sie sich heute noch darüber. Es habe sich schnell herumgesprochen, wie persönlich, wie kompetent und hervorragend die Betreuung von Liselotte war. Das kam auch vielen schwangeren Frauen aus der Umgebung zugute, sahen sie doch darin die Chance, in einer angenehmen Atmosphäre unter fachkundiger Anleitung und mit persönlicher Fürsorge zu entbinden.
War Liselotte einmal abwesend, sprang Hebamme Else Rist aus Würtingen ein und Ärzte aus der Umgebung standen zur Verfügung. Die Zimmer waren schlicht eingerichtet, es gab Badezimmer mit emaillierter Badewanne und ausreichend Toiletten. Ansprechend und freundlich war auch das Entbindungszimmer: »Es gab keinen Wehenschreiber, keine Geräte, wie man sie heute in den Kreißsälen vorfindet. Es war viel vertrauter«, erzählt sie weiter. Was zählte, war die Erfahrung der Hebamme. »Frau Vonier legte ihre Hände auf meinen Bauch, spürte, wie weit die Wehen fortgeschritten waren und horchte mit einem Holzstethoskop die Herztöne des Babys ab.«
»Es gab keinen Wehenschreiber, keine Geräte, wie man sie heute in den Kreißsälen findet«
Einzig eine kleine Waage stand auf einem Tisch parat, um dort die Säuglinge zu wiegen und zu versorgen. »Wenn ein Baby nachts mal keine Ruhe gab, hat sie es einfach zu sich geholt, damit die Wöchnerin wenigstens schlafen konnte.« Es sei außergewöhnlich gewesen, sie sei einfach für ihre Frauen und ihre Neugeborenen da gewesen.
Liselotte Vonier-Stock liebte Kinder, war Tag und Nacht rufbereit, großzügig, man habe sich geborgen und wohl gefühlt. Ebenso die Kinder, auch die ihrer Geschwister und ihre eigenen Enkelkinder, die in den Ferien oder am Wochenende zu Besuch kamen. »Meine Großmutter war eine Erscheinung. Sie hatte eine Struktur entwickelt, hielt ihre Linie bei, ihr Projekt, ihre Autorität, ihre Klarheit und sie war klug, bestimmt und überzeugend«, entsinnt sich Malin Vonier. »Das war ein wichtiger Platz in meiner Kindheit und gab mir viel Halt. Und die Dankbarkeit ist zu uns rübergeschwappt.«
»Wir waren damals eine Riesenclique, spielten Räuber und Gendarm, es war immer was los«, erzählt Sybille Knöbel aus der Generation davor voller Stolz. »Wir durften die Babys sehen und wickeln, mit den größeren durften wir spielen und spazieren gehen.«
Mehr als tausend Geburten sollen es gewesen sein, vermuten nicht nur die beiden Verwandten. Bis zum Alter von drei Jahren blieben die dort geborenen Kinder in der »Wohngemeinschaft«, wenn sie nicht vorher schon adoptiert wurden oder ihre Mütter sie zu sich nahmen. Lille habe rührend um Plätze für die Babys gekämpft, einige blieben bei ihr, andere durften ins Kinderheim im Lautertal.
Allerdings änderte sich im Laufe der Zeit einiges. Die werdenden Mütter bevorzugten ein Krankenhaus für die Geburt und die Tatsache, unverheiratet schwanger geworden zu sein, wurde mehr und mehr akzeptiert. Für Liselotte Vonier-Stock bedeutete dies, dass ihr Haus Auffangstation für Sozialfälle wurde, für junge Frauen, die schwer missbraucht und geschwängert wurden. »›Schon wieder der Vater‹ seufzte sie dann«, berichtet Knöbel.
Hinzu kam, dass die Auflagen für das Entbindungsheim immer umfangreicher wurden, die Vonier-Stock nicht mehr erfüllen konnte und auch nicht mehr erfüllen wollte. Mit Ende 60 entschied sie sich, aus dem Entbindungs- und Säuglingsheim ein Gästehaus mit Fremdenbetten zu machen.
Nach ihrem Tod wurde das Haus samt Inventar versteigert, berichtet Auktionator Thomas Leon Heck. Darunter edle Möbel ihrer aus Frankreich stammenden Mutter Marthe, seltene Art Deko Möbel, alles sehr wertvolle Sachen. Die Villa haben die Gosettis erworben und renoviert. Allerdings erinnern noch heute die großen Einbauschränke, die auf die Zimmertüren gemalten Blumennamen an Lilles Zeiten. An Demenz erkrankt, starb sie 1998 und wurde im Grab der Familie Stock auf dem Friedhof in Gomadingen beerdigt. (GEA)