MÜNSINGEN-BICHISHAUSEN. Der Alltag ist wieder im idyllischen Lautertal eingekehrt. Jeder geht seiner Wege, lässt den Ärger über den hier gedrehten Stuttgart-Tatort »Lass sie gehen« hinter sich und besinnt sich auf das echte, durchaus charmante Leben in Bichishausen. Nicht umsonst finden jedes Jahr mehrere hunderttausend Tagestouristen den Weg hierher zum Wandern oder Radfahren. Sie wissen ebenso wie die Einwohner die malerische Landschaft mit der mäandernden Lauter, den beweideten Wacholderheiden und den majestätischen Burgruinen, die stressfreie Atmosphäre und die Nähe zur schönen Natur zu schätzen. Dadurch lässt sich wohl auch erklären, warum sich so viele Menschen weit über Bichishausen hinaus über die verzerrte Darstellung des Dorflebens im Stuttgart-Tatort »Lass sie gehen« empört haben, auch wenn der Ort dabei »Waldingen« hieß.
Dieses 130-Seelen-Dorf war lediglich der Schauplatz einer – zugegebenermaßen äußerst grotesken – kriminellen, psychopathischen Handlung, die illustriert wurde mit markanten Bildern von Kirche, Friedhof, Burg, Gaststätte »Hirsch« und Häusern, die aber nichts, aber auch rein gar nichts mit Bichishausen selbst, geschweige denn mit dessen Einwohnern zu tun hatte. »Waldingen« hätte also genauso gut ganz woanders sein können. Doch der SWR hatte genau diesen Ort ausgewählt, weil er alle Bedingungen erfüllte, die das Drehbuch vorgab: Er sollte auf der Schwäbischen Alb liegen, idyllisch und nicht allzu groß sein, außerdem ein authentisches Gefüge haben. Bichishausen hat all dies zu bieten, darüber hinaus noch mit seiner Ersterwähnung im Jahr 1092 eine wechselvolle Geschichte. Heute noch erinnert das Zollhaus an die Grenze von Vorderösterreich zu Württemberg, die bis 1805 hier verlief.
Mit dem Dreh und der Ausstrahlung des Tatorts ist Bichishausen nun erneut - 219 Jahre später – in die Geschichtsbücher eingegangen. Dies vor allem deshalb, weil das Leben, das Wohnen und die Menschen hier extrem verzerrt dargestellt wurden, was laut SWR gewollt und der »künstlerischen Freiheit« geschuldet war. Das hat die Begeisterung der Einwohner über den Tatort doch recht gedämpft, zwischenzeitlich zeigen sie sich aber wieder stolz auf ihr Dorf. »Wir sind weltoffen, Zugezogene sind immer herzlich willkommen. Das habe ich am eigenen Leib verspürt. Es gibt ein aktives Dorfleben in verschiedenen Vereinen und die Work-Life-Balance stimmt«, betont Ortsvorsteher Emanuel Kraft, selbst ein »Reigschmeckter«.
Die Stadt Münsingen hat im vergangenen Jahr – allerdings erst nach den Dreharbeiten - kräftig in diesen kleinen Stadtteil investiert, die Fürstenbergstraße saniert, mit dem Schuhmacherplatz eine ansprechende Dorfmitte geschaffen und den Spielplatz erneuert. All das schafft nun zusätzliche Begegnungsmöglichkeiten, die die Dorfgemeinschaft auch zu nutzen weiß. So etwa mit der ersten »Dorfweihnacht«, die am 21. Dezember ab 18 Uhr hier veranstaltet wird. Anfang des nächsten Jahres zieht im alten Rathaus ein »Tante M«-Laden ein, um die Lebensmittelversorgung der Einwohnerschaft, aber auch der vielen Besucher zu verbessern. »Wir alle wissen das Leben hier durchaus zu schätzen«, so Kraft. Man schaue aufeinander, nehme Rücksicht, helfe sich gegenseitig und engagiere sich für ein gutes Miteinander und eine gelebte Dorfgemeinschaft. Ein überquellender Briefkasten, wie im Film dargestellt, würde hier sofort auffallen.
So kamen auch viele Bürger zum »Public Viewing« des Tatorts im Gasthaus »Hirsch« zusammen. Die gespannte und aufgeregte Stimmung verflüchtigte sich mit fortschreitender Handlung, auch beim Wirt Alfred Tress, der sogar als Komparse mitgespielt hatte. Seine Gaststätte bot mit der Außenansicht den Hauptschauplatz. Das veraltete Interieur des Wirtshauses von vor 60 Jahren stammte allerdings von einem Dreh in Baden-Baden und hat mit dem Hirsch in Bichishausen nichts zu tun. Für den 64-Jährigen ist das ein echtes Ärgernis, weil nun überall angenommen wird, sein Gasthof sei in der Zeit stehen geblieben. Der Wirt steht hier selbst am Herd und bietet eine abwechslungsreiche Speisekarte mit qualitativ hochwertigem Essen. Von der Zuspitzung im Film war er doch sehr überrascht. Nicht nur, weil seine heimelige und insbesondere im Sommer gut laufende Wirtschaft dabei schlecht wegkommt, sondern weil auch die Jugend als »in die Stadt fliehend« dargestellt wird.

Immerhin beweist der Jugendclub »Hütte«, wie wohl, fest verankert und zusammengehörig sich die junge Generation hier auf dem Land fühlt. Rund 20 Leute aus Bichishausen und dem ganzen Lautertal im Alter zwischen 16 und 30 Jahren kommen hier regelmäßig zusammen, stellen Veranstaltungen auf die Beine und bringen sich für die Dorfgemeinschaft ein. Auch der Vorsitzende Matthias Tress ist hier zuhause. Der 26-Jährige ist in Bichishausen aufgewachsen, wohnte während seines Studiums zur Elektro- und Informationstechnik in Ulm und ist danach wieder gern zurückgekehrt. Zur Arbeit pendelt er jetzt nach Ulm, manchmal macht er Homeoffice. »Hier auf dem Land ist das Leben viel persönlicher«, hat er die Erfahrung gemacht.
IHK lädt SWR-Programmdirektor auf die Alb ein
Auch die IHK Reutlingen kritisiert die Darstellung der Schwäbischen Alb in der jüngsten Folge der TV-Serie »Tatort« und hat Programmdirektor Clemens Bratzler zum Faktencheck in die Region eingeladen.
Seit Sonntagabend ist man vor allem im Großen Lautertal von den Tatort-Machern des SWR schwer enttäuscht. Die Darstellung der Menschen auf der Schwäbischen Alb hat bei vielen für Enttäuschung und Unmut gesorgt – und das zurecht, wie IHK-Hauptgeschäftsführer Dr. Wolfgang Epp in einem Brief an den zuständigen SWR-Programmdirektor Clemens Bratzler schreibt: »Der Film vermittelt ein rückwärtsgewandtes Bild der Schwäbischen Alb, das in keiner Weise der Realität entspricht und von Rückständigkeit, Engstirnigkeit und Klischees zeugt.«
Aus Sicht der IHK hat es das Tatort-Team verpasst, die Alb von heute zu zeigen und das, wofür das Leben dort dieser Tage steht, also Vielfalt, Modernität und Offenheit. »Stattdessen wurden alte Vorurteile bedient, mit denen vor allem jüngere Menschen weder als Zuschauer gewonnen werden noch damit im Alltag umgehen«, so die klaren Worte des IHK-Hauptgeschäftsführers.
Die IHK Reutlingen hat daher Clemens Bratzler und die Verantwortlichen der Produktion eingeladen, sich auf der Schwäbische Alb persönlich ein Bild zu machen und so für ein besseres Verständnis der Region zu sorgen. Wolfgang Epp schreibt: »Wir würden uns freuen, Ihnen bei einem Besuch die wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Besonderheiten vorzustellen und Sie mit führenden Unternehmen, innovativen Projekten und engagierten Menschen in Kontakt zu bringen.« (eg)
Den Tatort nahm er nicht ganz so dramatisch wahr, er konnte zwischen Fiktion und Realität unterscheiden. Dennoch hat auch er sich insbesondere über die Darstellung des zeitlichen Kontextes geärgert. »Man muss seit Jahrzehnten nicht mehr zu Fuß laufen, um den Arzt zu holen. Wir haben Handys«, meint er augenzwinkernd. Natürlich könne man sich in die Ecke getrieben fühlen, wenn - wie im Film - Menschen von der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen werden. »Diese Wahrnehmung habe ich nirgends auf dem Land. Hier sind alle anderen gegenüber offen eingestellt.«
Matthias Tress und viele andere sind froh, dass sich nun alle im Ort wieder etwas beruhigen. So langsam greift Abgrenzung um sich. »Das Problem ist, dass manche eine komplett andere Vorstellung vom Film im Voraus hatten. Ich habe mich überhaupt nicht mit der Handlung oder der Kulisse identifiziert, obwohl ich mein ganzes Leben schon hier verbringe«, ist von einer Einwohnerin zu hören. Auch sie freut sich darüber, dass nun alles wieder seinen gewohnten Gang geht. (GEA)