ZWIEFALTEN. Im Zwiefalter Pfarrhaus, das Pfarrer Sigmund Schänzle sonst überwiegend für sich hat, geht es zu wie im sprichwörtlichen Taubenschlag. Alle paar Minuten kommen Männer in sonntäglicher Kleidung, Hemd und Hose, herein, und verlassen es wenig später wieder. Gehüllt in hellbeige Messgewänder eilen sie hinüber ins Münster, wo Gläubige darauf warten, ihre Beichte abzulegen. Die Männer sind, wie Sigmund Schänzle, katholische Pfarrer. Mit so vielen Kollegen hat es Schänzle nur an besonderen Tagen zu tun. Zwei Mal im Jahr, am Pfingstmontag und am darauf folgenden Dreifaltigkeitssonntag, kommen Tausende Menschen zum Wallfahrtsgottesdienst nach Zwiefalten – erst die Angehörigen der italienisch-muttersprachlichen Gemeinden und wenige später ihre kroatischen Glaubensbrüder und -schwestern.
Begründet in den 1980er-Jahren, sind diese Wallfahrten eine – am kirchlichen Zeithorizont gemessen – eher junge Tradition, die nicht nur mit Glauben, sondern auch viel mit Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Migration zu tun hat. In den 1950er- und 60er-Jahren begann die Geschichte der Gastarbeiter, die aus Südeuropa nach Deutschland kamen. Erst waren die Männer alleine, dann holten sie ihre Frauen nach, Familien wurden gegründet. Sie blieben in Deutschland – und mit ihnen die nie ganz verschwindende Sehnsucht nach der Heimat.

»Heimat ist auch in der Religion«
»Heimat«, sagt Jürgen Weißhaar, »ist auch in der Religion«. Der Domkapitular ist aus Rottenburg nach Zwiefalten gekommen, um den Gottesdienst mit den Kroaten zu feiern. Er tut das als Hauptzelebrant und Repräsentant der Diözese Rottenburg-Stuttgart, zu der die kroatisch-muttersprachlichen Gemeinden gehören. Sprache ist ein Stück Heimat, das weiß man auch an höchster Stelle: »Jeder Katholik hat das Recht auf Seelsorge in seiner Muttersprache, Rom hat die Diözesen damit beauftragt, dafür zu sorgen, dass es erfüllt wird«, erklärt Weißhaar. Er hat selbst keine kroatischen Wurzeln und hält seine Predigt im Zwiefalter Münster deshalb auf Deutsch. Etwa alle zwei Jahre aber reist ein Bischof eigens aus Kroatien an, um den Gottesdienst mit seinen Landsleuten zu feiern.
Auch wenn’s dieses Mal, zur 42. Wallfahrt, kein kroatischer Bischof ist: Das Münster ist brechend voll, und Kroatisch gesprochen, gebetet und gesungen wird trotzdem sehr viel. Die kroatischen Katholiken haben ihren eigenen Ausdruck von Frömmigkeit, ihre eigene Art, Glauben zu leben, ihre eigenen Lieder und ihren eigenen Kultgegenstand: Bei der kurzen Prozession vom Pfarrhaus zum Münster tragen ein paar Männer die Replik eines Altaraufsatzes mit dem Bildnis der Jungfrau Maria.
Pfarrer aus kroatisch-muttersprachlichen Gemeinden in der Diözese gestalten die Liturgie gemeinsam mit Domkapitular Weißhaar. Neben Gastgeber Sigmund Schänzle spielt Andrija Župaric eine wichtige Rolle als Kozelebrant. Der 52-Jährige ist seit vier Jahren Pfarrer der kroatisch-muttersprachlichen Gemeinden im Dekanat Reutlingen-Zwiefalten. Im Team mit Pastoralreferent Zeljko Galic betreut er rund 6.000 Katholiken. Etwa die Hälfte davon gehören der kroatischen Gemeinde in Reutlingen an, die Gemeinde in Tübingen hat 1.750 Mitglieder, die in Metzingen 1.250.
Die Liebe zu einer Frau hat Zeljko Galic nach Deutschland geführt, der Pastoralreferent ist Familienvater. Pfarrer Andrija Župaric ist dem Ruf des Glaubens und seiner Kirche gefolgt, 23 Jahre lang war der gebürtige Bosnier Pfarrer in seiner Heimat, bevor er nach Deutschland zog. Die Sprache musste er erst lernen – anders als sein Kollege Ante Ivan Rozic, der mit zwei Sprachen aufgewachsen ist. Seine Geschichte ist die typische Geschichte eines Gastarbeiterkinds.

Aufgewachsen ist er in Stuttgart, zum Theologie-Studium ist er nach Kroatien gezogen – und nach Abschluss seiner Ausbildung wieder zurück nach Deutschland gekommen. »Deutschland ist für mich Heimat, nicht Ausland«, sagt der 39-Jährige. Er ist Pfarrer einer kroatischen Gemeinde in Stuttgart und Mitglied eines Franziskaner-Ordens in Split. Rund 30 seiner 180 Brüder leben in Deutschland.
Die kroatischen Bischöfe, sagt Weißhaar, sind noch großzügig, was die Überlassung von Personal betrifft. Generell aber werde es schwieriger, Seelsorger aus den jeweiligen Ländern für die muttersprachlichen Gemeinden zu finden. Die Italiener beispielsweise brauchen die Pfarrer, die sie noch haben, überwiegend bei sich, italienische Gemeinden im Ausland werden inzwischen oft von Pfarrern mit afrikanischen Wurzeln betreut. »Die neue Arbeitsmigration«, sagt Weißhaar, bringt neue Herausforderungen mit sich: In den vergangenen Jahren entstandene Gastarbeiter-Communitys haben zwar keine eigenen Gemeinden, aber einen Pfarrer mit Teilauftrag, der sich um sie kümmert. Als Beispiel nennt er die philippinischen Pflegekräfte in Tübingen.
»Wir brauchen mehr denn je Zusammenhalt«
Die kroatischen Gemeinden sind immer noch stark: 43 mit rund 63.000 Mitgliedern gibt es in der Diözese Rottenburg-Stuttgart – so viele wie nirgends sonst in Deutschland, sagt Ante Ivan Rozic. Die Wallfahrt nach Zwiefalten ist auch ein großes Familientreffen. Als Pilger zu Fuß kommen die wenigsten, die Mehrheit der modernen Wallfahrer reist mit dem Auto oder in Bussen an, die von den Gemeinden organisiert werden. Sie leben am Bodensee oder im Hohenlohischen und nehmen teils stundenlange Anfahrten auf sich. Die Diözese Rottenburg-Stuttgart ist riesig: Sie entspricht in Abgrenzung und Fläche etwa dem ehemaligen Königreich Württemberg.
Auch für die Zwiefalter sind die Wallfahrten der Italiener und Kroaten eine große Sache: Bürgermeisterin Alexandra Hepp hält im Gottesdienst ein Grußwort, die TSG Zwiefalten stellt, unterstützt von weiteren Vereinen, ein Festzelt auf und bewirtet die Wallfahrer. Insgesamt rund 3.000 Italiener und Kroaten kommen an den beiden Tagen – das sind rund 700 mehr als die Münstergemeinde Einwohner hat. »Wir brauchen mehr denn je Zusammenhalt, Respekt und ein friedvolles Miteinander über Grenzen hinweg«, schlägt Hepp die Brücke zwischen religiöser Tradition und aktueller (Gesellschafts)politik.
Auch Pfarrer Sigmund Schänzle, der die Kroaten mit ein paar Wörtern in ihrer Muttersprache willkommen heißt, die er von seiner früheren Putzhilfe gelernt hat, hält die Kultur der Gastfreundschaft hoch. Viele Jahre lang hat er in Argentinien gelebt und dort auch einen bedeutenden Wallfahrtsort und zahllose Pilger betreut – wie jetzt wieder in Zwiefalten, wo er seit 2022 wirkt. »Immer war ich Pilger und freue mich deshalb, einen bedeutenden Wallfahrtsort in meinem Zuständigkeitsbereich zu haben.« Wie ernst er diesen Satz bei seinem Dienstantritt damals vor drei Jahren gemeint hat, ist ihm anzumerken. Schänzle kümmert sich um alles und jeden, hat für jeden ein Wort oder ein Lächeln und fühlt sich nach dem Gottesdienst auch im Festzelt wohl. (GEA)