ZWIEFALTEN. Zweimal umschreitet Pfarrer Sigmund F. Schänzle langsam und würdevoll die Körbe, in denen schön gebundene Sträuße aus Kräutern und Blumen liegen. Das erste Mal schwenkt er das Weihrauchfass. Das zweite Mal besprengt er die Gebinde mit Weihwasser. Die Kräuterweihe ist ein volkstümlicher Brauch, der im 9. Jahrhundert erstmals schriftlich belegt ist. In Zwiefalten hat er eine hervorgehobene Bedeutung - wie alle Bräuche und Festtage, die mit Maria zusammenhängen. Sie ist die Namenspatronin des Münsters und des 1089 gegründeten Klosters Zwiefalten.
Von einem goldenen Strahlenkranz umgeben und das Jesuskind auf dem Arm, blickt sie in Gestalt einer barocken Statue milde hinab ins Kirchenschiff, das mit Hunderten Menschen gefüllt ist. Mariä Himmelfahrt am 15. August ist ein Hochfest der katholischen Kirche und in manchen Ländern und Bundesländern - in Bayern zum Beispiel, allerdings auch nicht flächendeckend - immer noch ein Feiertag. Obwohl dem in Baden-Württemberg nicht so ist, haben viele Menschen aus der ganzen Region und weit darüber hinaus den Weg zum Wallfahrtsgottesdienst gefunden. Pfarrer Sigmund Schänzle zelebriert ihn feierlich gemeinsam mit Pater Evodius Miku aus Tansania, der derzeit Pfarrvikar in Zwiefalten ist. Drei Ministrantinnen und zwei Lektorinnen aus der Gemeinde assistieren.
Was aber haben nun die Kräuterbüschel - etliche davon haben Zwiefalter Landfrauen am Tag zuvor gemeinsam gebunden - mit Maria zu tun? »Marias Symbol ist die Rose, sie wird oft mit Blumen verglichen«, erklärt der Pfarrer in seiner Predigt. Das Brauchtum der Kräuterweihe geht vermutlich auf die Überlieferung des Kirchenvaters Johannes von Damaskus zurück. Ihr zufolge soll dem leeren Grab Marias bei seiner Öffnung ein Wohlgeruch nach Kräutern und Rosen entstiegen sein. Maria zu Ehren trägt Schänzle ein Messgewand, das er eigens für die Marienfeste hat anfertigen lassen: Es ist rosenrot und mit Rosenmuster verziert.
Nicht nur die Rose - sie steht für die Liebe und ist zugleich ein Hinweis auf Jesu Kreuzestod -, sondern auch viele andere Blumen sind voller Symbolik. Dementsprechend werden auch die Kräuterbüschel nach einem bestimmten Codex gebunden, hinein gehören mindestens sieben, höchstens aber 99 Kräuter. »Viele davon stehen in ihrer Bedeutung auch für die Eigenschaften von Maria«, sagt Sigmund Schänzle. Da ist zum Beispiel das Gänseblümchen, das Bescheidenheit ausdrückt. Den Anklang ans Paradies, das Süße, findet sich zum Beispiel in der Walderdbeere. Die Akelei erinnert an den Mantel Marias, der sie vor dem Bösen schützt, die Lilie steht für Reinheit und Unschuld. »Die Königskerze wird oft in die Mitte gebunden, weil sie die größte Blume ist, die wir kennen.« Für Glück und Liebe steht die Kamille, Getreideähren symbolisieren das tägliche Brot.
»Für alles ist ein Kraut gewachsen«, zitiert Schänzle ein Sprichwort, in dem viel Wahrheit steckt. Hildegard von Bingen spielt auch für Zwiefalten eine Rolle. Sie besuchte das Kloster im Jahr 1170 und gehört zu den zentralen Figuren, die die Heilkraft der Kräuter erkundet und nutzbar gemacht haben. »Heil werden und heil bleiben - Heilung ist eine Ursehnsucht der Menschen«, sagt der Pfarrer. An Mariä Himmelfahrt wird die Aufnahme der Mutter Gottes in den Himmel gefeiert. Es geht also um Erlösung und bleibenden Frieden - Themen, die zurzeit sehr drängend sind und die Menschen der Kirche wieder näher bringen, wie Schänzle beobachtet. Ablesen kann er das nicht nur an den vollen Bänken beim Wallfahrtsgottesdienst, sondern auch an den Opferlichtern, die täglich von Besuchern im Münster entzündet werden: »Oft ist abends kein einziger Platz mehr frei.«
Heilkräuter und Hörner
Heilkräuter wie Thymian, Schafgarbe, Minze oder Johanniskraut finden sich in den Gebinden, die nach der Weihe mit nach Hause genommen werden: Mit ihnen soll der Segen in die Häuser einziehen. Auch der Weihrauch verbreitet nicht nur Wohlgeruch, ihm werden ebenfalls zahlreiche positive Wirkungen auf die Gesundheit zugeschrieben - so soll er Entzündungen hemmen, bei Asthma helfen, beruhigende Wirkung auf die Psyche haben und die Gedächtnisfunktion unterstützen. Auch das Weihrauchfass, mit dem er im Kirchenraum verteilt wird, steckt voller Symbolik. »Maria ist das Gefäß, das die glühende Kohle birgt. Die glühende Kohle ist das Wort Gottes, das Maria kund tut. Der aufsteigende Rauch - die Botschaft - dringt durch die Fenster der Kuppel, die für die Kirche steht, in die Welt.«
Zur musikalischen Begleitung des Gottesdiensts hat Schänzle die Rottumtaler Alphornbläser unter der Leitung von Hubert Wiest eingeladen. Er kennt die Gruppe aus Ochsenhausen von früher, in Zwiefalten haben die drei Männer und zwei Frauen nun zum ersten Mal gespielt. Auch die Hörner, erklärt er in seiner Predigt, kommen in der Bibel oft vor und sind bedeutende Symbole. Ihr Klang ist Zeichen der Macht Gottes, die zum Sieg führt, Zeichen des Jubels und der Freude und Ankündigung des jüngsten Gerichts. Auch eine ganz weltliche Anekdote will der Pfarrer seinen Gottesdienstbesuchern nicht vorenthalten: Hubert Wiest hat ein Alphorn aus einem naturgewachsenen Stück Holz gebaut, das es mit einer Länge von 26,46 Metern im Jahr 2012 als längstes Alphorn der Welt ins Guinness-Buch der Rekorde geschafft hat. (GEA)