ZWIEFALTEN. Der Zweite Weltkrieg endete in Zwiefalten am 25. April mit dem Einmarsch französischer Truppen. Der Geschichtsverein Zwiefalten hat einige Dokumente im Band »Zwiefalten 1945 – Erinnerungen an das Kriegsende« zusammengefasst. Mit der französischen Gemeinde La Tessoualle besteht bereits seit 1973 eine Partnerschaft, seit nun 52 Jahren, das Kriegsende lag bei der Gründung erst 28 Jahre zurück. »Alle waren noch jung, es gab durchaus Vorbehalte«, erinnert sich der langjährige Zwiefalter Bürgermeister Hubertus Riedlinger.
Das ist nachvollziehbar, denn die kurze, nur etwa vier Monate andauernde französische Präsenz in der Münstergemeinde verlief nicht ohne Konflikte. Wenn auch ohne große Zerstörungen, »das Münster hat Zwiefalten beschützt«, meint Bürgermeisterin Alexandra Hepp. Der Geschichtsverein hat aus Tagebuchaufzeichnungen, Chroniken und mündlichen Überlieferungen ein buntes Bild der letzten Kriegs- und ersten Nachkriegstage zusammengestellt. Nah an den Erinnerungen ist es eine Zeitreise mit viel Lokalkolorit in eine andere, seltsame Zeit.
Von einem Unterschlupf zum nächsten
Manches erinnert an den Wilden Westen, manches an Landsknechtsgeschichten aus dem 30-jährigen Krieg. Der Sanitätsoffizier Dr. Hans Werner Schreck schlug sich nach dem Zusammenbruch der Wehrmacht von Schlesien zurück nach Zwiefalten, in die Heimat seiner Frau, durch. Zu Fuß, meist bei Nacht, von einem Unterschlupf zum nächsten: »Es galt, etwas zu essen zu bekommen, abends ein Quartier zu finden und gelegentlich einen Blick in eine Karte zu nehmen, damit man keine unnötigen Umwege machte.« Und immer wieder Formulierungen wie »schärfste Warnung vor den Franzosen«. Ende Mai hatte er es geschafft, am 26. April hatte seine Frau Maria eine Tochter zur Welt gebracht. Maria konnte er auf dem Bühlhof hoch oben über Zwiefalten nächtens treffen, nach Hause traute er sich erst, als die Franzosen weg waren. Erinnerungen wie diese geben dem Werk des Geschichtsvereins seinen Charme, seine persönliche Note. Die Erzählung der Wanderung wäre allein schon einen Roman wert. Es sind Berichte über selbstlose Hilfe, herumirrende Völkerschaften – versprengte Soldaten, befreite Zwangsarbeiter und entlassene Kriegsgefangene der Wehrmacht aus aller Herren Länder, dazwischen die neuen Herren, um Ordnung bemüht –, eine Welt in Auflösung.
In Zwiefalten war derweil nichts mehr, wie es war. Luise Schelkle hielt das Kriegsende in ihrem Tagebuch fest, pflegte dabei einen literarischen Stil, gewürzt mit Ironie: »Um eine gute Ernte zu erhoffen, musste doch der Samen der Erde anvertraut werden. Da diese, weil die Pferde auch das Vaterland verteidigen sollten, mit Ochsen und Kühen bewältigt werden musste, ging’s oft dabei recht behäbig zu.« Das war noch vor der Ankunft der »Eindringlinge«, die begaben sich unverzüglich »auf die Jagd nach etwas Essbarem, viele Hühner und Gänse wanderten – erschlagen mit langen Stangen – in den Suppentopf«. Besonders beeindruckt haben die Zwiefalter offensichtlich die marokkanischen Truppen. Zu Kindern seien sie freundlich gewesen, hätten ihnen Schokolade und Zigaretten zugesteckt. An Fahrrädern hätten sie ihren Spaß gehabt, ebenso an geplündertem Schmuck, den sie dann aber auch wieder an die Kinder verschenkt hätten.
Auf der Suche nach Mädchen
Allerdings: Die »wilden Gesellen gingen auch auf die Suche nach Mädchen«, schrieb Schelkle. »Vergewaltigungen von Frauen und Plünderungen« seien bedauerliche Begleiterscheinungen der Besatzung, erinnert sich auch der damals 16-jährige Soldat Josef Schwarz, dessen Erinnerungen von Ansgar Schwarz niedergeschrieben wurden. Er sagt weiter, dass »das Verhältnis zwischen den Besatzungssoldaten und der Bevölkerung zwar meist kühl und reserviert, aber immerhin korrekt gewesen sei«. Die vergewaltigten Frauen dürften das anders gewichtet haben.
Die Geschichte wiederholt sich manchmal doch. Das Kapitel »Die tapferen Frauen von Zwiefalten« widmet sich den Bemühungen, ukrainische Flüchtlinge vor den Sowjets zu retten. Hier bekommt das etwa 70-seitige Bändlein erschreckende Aktualität. Wie kamen Ukrainer nach Zwiefalten? Die Ukraine war und blieb noch bis 1991 Teil der Sowjetunion, Hauptgegner von Nazi-Deutschland. In der Ukraine war beim Einmarsch der Wehrmacht 1941 – ein großer Teil der Kämpfe fand dort statt – die Erinnerung an den Holodomor, die große Hungersnot in den 1930er-Jahren, die Millionen von Toten forderte, noch wach. Es gab Widerstand gegen den staatlich verordneten und mit Gewalt durchgesetzten Kommunismus, auch aus den Reihen der unter den Sowjets verfolgten Kirchen. In Zwiefalten kam im Frühjahr 1945 nach dem Rückzug der Wehrmacht eine Gruppe Geistlicher aus Kiew an. Darunter der Archimandrit des Kiewer Höhlenklosters, Abt Dimitij Biakaj, Erzbischof Leontij Filippovic, zwei Bischöfe, weitere Gläubige, Krankenschwestern und eine Gesangsgruppe.
Flucht nach Wendlingen
Die Sowjets waren – noch – Verbündete der Alliierten, in Münsingen hatte die Sowjetunion eine Dienststelle eingerichtet, so Wilfried Reuter, der das Kapitel über die »Tapferen Frauen« schrieb. Dem französischen Kommandanten trauten die Ukrainer nicht, und in sowjetischen Gewahrsam wollten sie auf keinen Fall. Mithilfe der Zwiefalter Frauen gelang ihnen die Flucht zu Fuß nach Wendlingen in die Sicherheit unter amerikanischer Regie.
In der kleinen Gemeinde Zwiefalten trafen 1945 Menschen aus halb Europa, aus Amerika, aus Nordafrika zusammen. Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturkreisen, mit ganz unterschiedlichen Hintergründen mussten notgedrungen für einige Zeit miteinander leben. Und sie schafften das auf eine bemerkenswerte Art und Weise. Bauern aus Upflamör, Bürger aus Zwiefalten, siegreiche und geschlagene Soldaten, Flüchtlinge von überall her – in den Aufzeichnungen zeigt sich wenig oben und unten, vielmehr ein Pragmatismus und eine Offenheit, die man heute manchmal vermisst. Die große Tragödie ist das Schicksal der vergewaltigten Frauen und Mädchen, auch sie wird nicht verschwiegen. (GEA)
Kriegsende in Zwiefalten
Der Band »Zwiefalten 1945 – Erinnerungen an das Kriegsende« wird vom Geschichtsverein Zwiefalten herausgegeben. Autoren sind Maria Metzger, Hans Werner Schreck, Wilfried Reuder, Huber Schelkle und Ansgar Schwarz. Das Layout hat Vero Bobke übernommen. Das Buch kann unter gauberg@geschichtsverein-zwiefalten bestellt oder im Rathaus in Zwiefalten erworben werden. (GEA)