HOHENSTEIN. Bürgermeister Simon Baier bezeichnet das Port Gesundheitszentrum in Hohenstein als »bundesweites Leuchtturmprojekt«. Die Formulierung ist zwar nicht ganz neu, aber: In diesem Fall ist sie nicht übertrieben. Seit seiner Eröffnung im Jahr 2019 gibt es dort Angebote für Menschen aller Generationen, es ist eine Art Ärztehaus und gleichzeitig viel mehr als das. Haus- und Fachärzte, aber auch Therapeuten, Sozialarbeiter, medizinische und pflegerische Fachkräfte arbeiten interdisziplinär und multiprofessionell unter einem Dach zusammen und kümmern sich sowohl um die Versorgung in akuten Fällen als auch um die langfristige Begleitung von Patienten.
Hinter den bundesweit vier Port Gesundheitszentren – Port steht für »patientenorientierte Zentren zur Primär- und Langzeitversorgung« – steht die Robert-Bosch-Stiftung, die hier innovative Versorgungsmodelle im Gesundheitssystem erproben will. Auch die Hans-Schwörer-Stiftung in Oberstetten unterstützt das Modellprojekt. Das Gesundheitszentrum ist ein optimales Experimentierfeld für neue Berufsbilder. Eine Gesundheitslotsin, die Patienten begleitet, um die zu ihnen passenden Ansprechpartner und Angebote zu finden, ist bereits im Einsatz.
Begleitung auch für Angehörige
In diesem Jahr sind nun zwei neue Mitarbeiterinnen hinzugekommen, die neue Versorgungsschwerpunkte entwickeln sollen: Offiziell sind Barbara Boßler und Sabine Schwaigerer »Community Health Nurses«. Weil der Begriff aber weder den beiden Frauen selbst noch dem Kreisgesundheitsamt, das sie fachlich begleitet, noch der Hohensteiner Verwaltung gefällt, sprechen sie lieber von »kommunaler Gesundheitsfachkraft«. Was konkret dahinter steckt, erläuterten sie nun in einer Gemeinderatssitzung.
Barbara Boßler hat im März ihre 60-Prozent-Stelle als Gesundheitsfachkraft für Erwachsene im Gesundheitszentrum angetreten. Die Berufsbezeichnung ist weit gefasst, der Hohensteiner Zuschnitt ist deutlich individueller. Barbara Boßler ist ausgebildete Pflegefachkraft und hat ein abgeschlossenes Studium in Pflegewissenschaften vorzuweisen, ihre Masterarbeit hat sie über Demenz verfasst. Hier liegt auch ihr Schwerpunkt in Hohenstein: Sie kümmert sich um ältere Menschen und ihre spezifischen Probleme in dieser Lebensphase sowie um pflegende Angehörige. Stichworte sind Demenz im Besonderen und psychische Erkrankungen im Allgemeinen, Einsamkeit und Multimorbidität, das Nebeneinander mehrerer Krankheiten also. Dabei arbeitet sie eng mit dem Pflegestützpunkt im Kreis Reutlingen und den Sozialstationen zusammen.
Als Ansprechpartnerin ist sie zu festen Zeiten im Gesundheitszentrum erreichbar, darüber hinaus bietet sie vor allem auch Hausbesuche an – kostenlos und unter Schweigepflicht. Menschen, die Angehörige pflegen, versorgt sie beispielsweise mit Tipps für den Alltag oder Kontakten, um weitere Netzwerke aufzubauen: Wer kann bei der Pflege helfen, welche Angebote gibt es? Allein lebende ältere Menschen, die unter Einsamkeit leiden, finden bei ihr nicht nur ein offenes Ohr, sondern auch praktische Hilfe – auch bei ganz banalen Dingen wie beispielsweise Reparaturen im Haus. Für diejenigen, die das selbst nicht mehr schaffen, macht sie sich auf die Suche nach einem Handwerker, der sich um das Problem kümmert.
Im Schulunterricht verankert
Sabine Schwaigerer ist als 70-Prozent-Kraft schon seit Januar als kommunale Gesundheitsfachkraft für Kinder und Jugendliche im Einsatz. Ihre Aufgabe ist es, bei Kindern so früh wie möglich den Grundstein für ein gesundheitsbewusstes Leben zu legen. Auch sie ist, wie ihre Kollegin Barbara Boßler, zu fixen Sprechzeiten im Gesundheitszentrum anzutreffen, wo sie insbesondere mit der Kinderarzt-Praxis eng zusammenarbeitet.
Ein wichtiger Teil ihrer Arbeit spielt sich an der Hohensteinschule ab: Dort ist die gelernte Kinderpflegerin und Fachberaterin für gesunde Ernährung im Schulalltag auf viele Arten präsent. Offenes Knie, Angst vor der nächsten Klassenarbeit oder Bauchweh? Sabine Schwaigerer nimmt sich für die kleineren und größeren Sorgen der Grundschulkinder Zeit und ist Ansprechpartnerin für Eltern, wenn es beispielsweise um chronische Erkrankungen oder Handicaps geht.
Auch im Schulalltag ist sie präsent und gestaltet ganze Unterrichtseinheiten. Dazu gehört der Ernährungsführerschein in Klasse 3 – ein Projekt, das sich über mehrere Wochen erstreckt – genauso wie die Begleitung von Sportangeboten wie beispielsweise einem Triathlon für Drittklässler. Auch auf spezifische Fälle geht sie ein. Ein Beispiel: An der Schule gibt es mehrere Kinder, die an Diabetes erkrankt sind. »Warum piepst da ständig ein Gerät?« Diese und andere Fragen, die sich Mitschülern vielleicht stellen, erklärt sie in dafür reservierten Schulstunden.
Der Einsatz der beiden neuen Fachkräfte ist ein Modellprojekt, das auf mehreren Ebenen politisch und fachlich subventioniert und begleitet wird. Die Schaffung der Stellen hat ein Förderprogramm des Sozialministeriums Baden-Württemberg überhaupt erst möglich gemacht: Gestärkt werden sollen damit »Projekte zur Konzeptualisierung und zum Aufbau von Primärversorgungszentren und Primärversorgungsnetzwerken«.
Die Gemeinde Hohenstein hat sich erfolgreich um eine Teilnahme samt Förderung beworben. Geld gibt’s zunächst für 23 Monate – insgesamt 266.705 Euro vom Land, die Gemeinde muss einen Eigenanteil in Höhe von zehn Prozent aufbringen, konkret: 26.671 Euro. Wie’s nach der Förderperiode weitergeht, ist noch offen.
Wissenschaftlich begleitet wird das Projekt vom Forschungs- und Beratungsinstitut für Infrastruktur und Gesundheitsfragen (IGES), fachlich flankiert vom Gesundheitsamt im Landkreis Reutlingen. Sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene sind die Hohensteiner Akteure bei Veranstaltungen fürs Fachpublikum und Netzwerktreffen präsent. Davon berichtete Dr. Katrin Bär vom Kreisgesundheitsamt in der Gemeinderatssitzung. Bär ist wichtig, das Angebot in Hohenstein noch mehr publik zu machen – mit gedruckten Flyern, aber auch mithilfe von Vorträgen, die die beiden Gesundheitsfachkräfte im Gesundheitszentrum zu ihren jeweiligen Themenschwerpunkten halten.
Tücken des Gesundheitssystems
Den beiden Frauen sprach sie ihre Anerkennung aus: »Es ist auch ein Wagnis, ein so neues Stellenprofil einzugehen und neue Arbeitsfelder zu erschließen.« Zu den größten Herausforderungen gehören aus ihrer Sicht die rechtlichen Grundlagen des deutschen Gesundheitssystems: »Was darf eine Gesundheitsfachkraft machen und was nicht? Wo ist eine ärztliche Delegation erforderlich? Hier fällt uns unser kompliziertes System manchmal auf die Füße.« Auch die Suche nach einer langfristigen Finanzierung, wenn die Förderung des Landes ausläuft, zählt Bär mit zu ihren Aufgaben. (GEA)