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Vor 80 Jahren: Kampf um die »Festung« Genkingen

Die Wehrmacht versuchte vor 80 Jahren am Albtrauf mit einem Kraftakt den Vormarsch der Franzosen zu verzögern – mit schlimmen Folgen für Genkingen. Für das aussichtslose Unternehmen sollte der kommandierende Hauptmann Hans-Jörg Kimmich büßen.

Blick auf das Alb-Dörfchen GEnkingen: Die Aufnahme zeigt den Ort im Jahr 1936 mit Blick auf den Roßberg.
Blick auf das Alb-Dörfchen Genkingen: Die Aufnahme zeigt den Ort im Jahr 1936 mit Blick auf den Roßberg. Foto: privat
Blick auf das Alb-Dörfchen Genkingen: Die Aufnahme zeigt den Ort im Jahr 1936 mit Blick auf den Roßberg.
Foto: privat

SONNENBÜHL-GENKINGEN. Für Oberwachtmeister Anstett vom Landespolizeiposten Undingen war die Sache klar. Der Kampftruppen-Hauptmann Hans-Jörg Kimmich galt für ihn als der Hauptschuldige an den Kriegsschäden und Opfern, die am 21. und 22. April 1945 in den Dörfern Genkingen und Undingen zu beklagen waren. Allein in Genkingen brannten 51 von 300 Häusern ab, etwa 20 weitere in Undingen, 15 Wehrmachtssoldaten, nach anderer Zählung 14, kamen ums Leben und eine unbekannte Zahl an französischen Soldaten. Außerdem fanden sechs Zivilisten den Tod, zahlreiche Menschen erlitten Verletzungen.

Auf Ersuchen des damaligen Genkinger Bürgermeisters August Weinland hatte Anstett Nachforschungen zu den Vorgängen in diesen Apriltagen angestellt und mit Datum 3. August 1946 das Ergebnis in einem knapp eineinhalb Seiten langen Schreiben an den Schultes festgehalten. »Als kriegserfahrener Offizier musste er wissen, dass jeder Widerstand gegen eine solche Übermacht zwecklos war. Er trägt deshalb auch die Schuld an dem Fliegerangriff auf Genkingen und Undingen…«, beklagte sich Anstett über den Hauptmann.

»Als kriegserfahrener Offizier musste er wissen, dass jeder Widerstand gegen eine solche Übermacht zwecklos war«

Die Ermittlungen von Anstett hatten Folgen für den Ritterkreuzträger, der 1945 gerade 25 Jahre alt war. »Der Inhalt des Schreibens vom 3. August 1946 von Undingen belastet Kimmich aufs Schwerste«, urteilte am 23. Oktober 1946 der Untersuchungsausschuss, der im Landkreis Tübingen zur Säuberung der Verwaltung von nationalsozialistischen Einflüssen zuständig war. Kimmich hatte sich am 1. Dezember 1945, nach Gefangenschaft und Lazarettaufenthalt, an der Universität Tübingen zum Jurastudium eingeschrieben. Der Ausschuss beschloss, Kimmichs berufliches Fortkommen einzuschränken. »Als künftiger Jurist oder Rechtsanwalt ist Kimmich abzulehnen. Er soll am Aufbau verwendet werden«, heißt es in dem Urteil, das im Bundesarchiv Freiburg aufbewahrt wird.

Hätte es Bestand gehabt, wäre Kimmich exmatrikuliert worden. Es drohte Berufsverbot für einen hellen Kopf, den seine Vorgesetzten in der Armee in hohen Tönen gelobt hatten. Der Kommandeur seines Grenadier-Regiments 119 schlug Kimmich am 5. Juni 1943 für die Beförderung zum Hauptmann vor und begründete dies mit den Worten: »Er versteht es, seine vielseitige Begabung mit Energie und Fleiß zu reicher, wertvoller Arbeit zu verwenden.« Ein Jahr später wurde er von seinem Vorgesetzten als »geistig rasch, klar und gewandt« beschrieben.

Hans-Jörg Kimmich verantwortete die Truppen, die im April 1945 um Genkingen kämpften.
Hans-Jörg Kimmich verantwortete die Truppen, die im April 1945 um Genkingen kämpften. Foto: Archiv
Hans-Jörg Kimmich verantwortete die Truppen, die im April 1945 um Genkingen kämpften.
Foto: Archiv

Aber eben doch ein Haudrauf, ein Offizier, der die Befehle seiner Vorgesetzten bedenkenlos und ohne Rücksicht auf Verluste befolgte? Der unverbrüchlich an den Endsieg glaubte, obwohl die Alliierten kurz davor waren, ganz Deutschland einzunehmen? Sicher ist, dass Kimmich durchaus ein Mann von gesunder Skepsis war, der Befehle hinterfragte, der seinen Verstand einsetzte, der zu differenzieren wusste. Das hatte er wenige Tage vor den schrecklichen Ereignissen in Genkingen und Undingen unter Beweis gestellt.

Kimmich war erst am 1. April 1945 in die Reutlinger Gegend gekommen. Nach einem Lazarettaufenthalt erhielt der neunmal verwundete Hauptmann den Auftrag, in der Achalmstadt aus drei Kompanien eine Kampfgruppe aufzustellen. Sie sollte am Albrand zwischen Holzelfingen und Genkingen die Invasionstruppen aufhalten, die aus dem Westen anrückten. Kimmich befehligte zum Schluss 2.300 Mann. Es ging darum, deutschen Truppen, denen die Umfassung und mögliche Vernichtung durch französische und US-amerikanische Kräfte drohte, den Abzug in Richtung Donau zu ermöglichen.

Doch vor der Konfrontation am Albtrauf hatte Kimmich von dem in Münsingen stationierten Generalleutnant Ludwig Merker den Befehl erhalten, sich mit seinen Leuten im Westen von Tübingen links und rechts des Spitzbergs zu verschanzen und die rasche Einnahme Tübingens zu verhindern. Angesichts der Übermacht hielt Kimmich diese Aktion für aussichtslos, ja gar für ein Himmelfahrtskommando. Er befürchtete, seine Kompanien könnten aufgerieben werden. Und dass die Franzosen bei heftigem Widerstand Vergeltung gegenüber der Stadt Tübingen üben würden. So hielt Kimmich seine Leute zurück und ermöglichte dadurch die Mission des Tübinger Standortarztes Theodor Dobler, der den Franzosen Emissäre entgegengeschickt hatte mit der Versicherung, Tübingen ergebe sich widerstandslos. Am 19. April nahmen die Franzosen die Stadt ein, ohne dass ein Schuss fiel.

Die Befehlsverweigerung hätte Kimmich das Leben kosten können, die fliegenden Standgerichte Hitlers waren zu der Zeit noch unterwegs. Eine Verteidigung am Albrand jedoch hielt er aus damaliger Sicht für sinnvoll und möglich, bildete der Trauf doch ein natürliches Geländehindernis, »auch für moderne Armeen nur schwer überwindbar«. Nach eigener Darstellung besetzte Kimmich mit seinen Truppen eine Linie 1,5 Kilometer vor Genkingen und 4,5 Kilometer vor Undingen.

Gerhard Junger, Autor des 1991 erschienenen Buches »Schicksale 1945 – das Ende des II. Weltkriegs im Kreis Reutlingen«, schreibt, das Dorf sei von der Kampfgruppe belegt worden. Auch der Volkssturm und der »Werwolf« der Hitlerjugend (HJ) habe sich in Genkingen eingenistet. Junger notierte, Wehrmachts-Einheiten und Männer des Volkssturms Genkingen hätten eine Panzersperre etwas oberhalb der Talmühle an der Steige zwischen Gönningen und Genkingen eingerichtet und eine weitere in der Ramstalschlucht zur Waldabteilung »Scheiterhau«. In der Öschinger Straße wurde ein Geschütz eingegraben, nicht weit weg davon wurden zwei Granatwerfer positioniert. Unmittelbar unterhalb des Gasthauses »Rosengarten« brachten die Trupps zwei Geschütze in Stellung. »Allenthalben wurden Panzerfäuste aufgestapelt«, berichtet Junger weiter.

Diese militärischen Vorbereitungen und Bewegungen blieben nicht unbemerkt. Die Luftaufklärung der Franzosen musste das beobachtet haben, »zumal viele Soldaten auf sorgfältige Tarnung wenig bedacht waren« (Junger).

»In wenigen Minuten standen größere geschlossene Ortsteile in Flammen«

Am 21. April verharrten die französischen Bodentruppen noch in Gönningen. Am gleichen Tag gegen 11.30 Uhr griffen jedoch zwölf Jagdbomber, aus südlicher Richtung anfliegend, Genkingen mit Brandmunition an. Junger: »In wenigen Minuten standen größere geschlossene Ortsteile in Flammen. Bald war das ganze Dorf in ein Feuer- und Rauchmeer verwandelt.« Die einklassige Schule mit Lehrerwohnung brannte ab, ebenfalls das Pfarrhaus. »Die Handspritzen des Luftschutzes taten nun gute Dienste. Aber bald ging das Löschwasser aus, stattdessen pumpte man Jauche in die Flammen«, berichtet Junger. Eine Situation entstand, wie man sie in bombardierten Städten kannte. Junger: »Menschen, Pferde und Vieh rannten verängstigt durch die Straßen. Verstörte Kinder suchten ihre Mütter.« Der 80-jährige Jakob Rein hatte sich in seinen Keller geflüchtet. Über ihm brannte das Haus ab. Später wurde er erstickt gefunden.

War an all dem Kimmich schuld? In seinem 1947 verfassten »rückschauenden Bericht über meine Tätigkeit bei der Verteidigung der Schwäbischen Alb im April 1945« wehrt er sich gegen den Vorwurf, er habe den Fliegerangriff auf Genkingen und Undingen verursacht. In Genkingen selbst habe er keine Truppen stationiert. Er habe lediglich eine Befehlsstelle auf dem Rathaus eingerichtet, »da dort Telefonanschluss war«. Als ihm gemeldet wurde, dass in den Wäldern größere Teile eines Nahkampf-Bataillons der Hiterjugend lägen und leichte Feindberührung hätten, habe er diese Einheit sofort zurücknehmen lassen. Er sorgte dafür, dass sich die HJ-ler in Großengstingen sammelten. Dort wurden sie aus seinen Truppenbeständen verpflegt. Kimmich: »Darauf entließ ich sämtliche Angehörige des HJ-Bataillons nach Hause (es waren meist Reutlinger), da ich einen Einsatz der Jungen für unverantwortlich hielt. Ich hatte zu dieser Maßnahme weder Befehl noch Berechtigung; es ist wohl bekannt, welche Strafen damals auf solche Eigenmächtigkeiten standen.«

Wie erklärt sich Kimmich aber den Fliegerangriff, wenn er nicht durch seine Truppen ausgelöst wurde? Kimmich weist in seiner Verteidigungsschrift darauf hin, seine beiden Bataillone am Albrand hätten zur Zeit dieses Angriffs keine Feindberührung gehabt, entlang des Albtraufs sei auch keine durchgehende Stellung ausgehoben worden. »Der Gegner konnte also weder durch Erd- noch durch Luftaufklärung festgestellt haben, ob und in welcher Stärke die Alb in meinem Abschnitt besetzt war und verteidigt werden sollte.« Kimmich merkte allerdings an, dass in jenen Tagen abrückende fremde (deutsche) Einheiten durch beide Orte gezogen waren. »Es ist möglich, dass die Fliegerangriffe auf diese abzielten«, so Kimmich.

Nach dem Bericht von Junger setzte am Nachmittag des 22. April aus Richtung Tübingen Artilleriefeuer ein. Die Einschläge verursachten in Genkingen »vielfach« Gebäudeschaden. Abends besetzten französische Truppen das Dorf. Kimmich antwortete in der Nacht mit einem Gegenstoß, geführt von einer Reservekompanie aus Richtung Undingen. Es kam zu erbitterten Häuser- und Straßenkämpfen, die die ganze Nacht anhielten, wie Junger festhielt. Kimmich rechtfertigte diese Aktion: Er habe auf Befehl gehandelt, den er selbst als plausibel eingeschätzt habe. Denn die Aktion sei nicht ohne Aussicht auf Erfolg gewesen. Kimmich berief sich auch darauf, Rücksichten auf die Bevölkerung und seine Truppen genommen zu haben.

»Die Festung Genkingen ist nach dreitägigem hartem Kampf eingenommen worden«

Bei den Kämpfen, die bis zum 23. April andauerten, traf ein Artilleriegeschoss den über 600 Jahre alten Genkinger Kirchturm. Weitere Häuser wurden beschädigt. Kimmich wurde vorgeworfen, er habe von Undingen aus ins Dorf hineinschießen lassen, was er empört bestritt. »Ich habe dazu weder den Befehl gegeben, noch ist mir bekannt, dass dies aus eigenem Entschluss eines Batterieführers oder auf Befehl eines anderen Vorgesetzten geschehen wäre. Die Granaten, die die Umgebung von Genkingen und das Dorf selbst getroffen haben, waren – wie mir gemeldet wurde – ausschließlich französische, auch, als bereits französische Truppen die Ortschaft besetzt hatten.« Der französische Rundfunk sendete die Nachricht: »Die Festung Genkingen ist nach dreitägigem hartem Kampf eingenommen worden.«

Ein Vorfall löste bei den Franzosen größte Empörung aus. Sie hatten in der Nacht Verwundete in die Scheune beim Haus Undinger Straße 32 untergebracht. Diese Scheune wurde in Brand geschossen. »Drei der Verwundeten wurden anderntags als verkohlte Leichen geborgen und im Dorf als Anklage gegen die Deutschen ausgelegt«, schildert Junger. Ungeklärt blieb, wer für die Tat verantwortlich war. Waren es Kimmichs Soldaten oder aber war die Scheuer von jungen Werwölfen mit einer Panzerfaust in Brand geschossen worden?

Die Karriere Kimmichs als Richter und IB-Größe

Hans-Jörg Kimmich kam am 8. März 1920 in Schwenningen auf die Welt. Sein Vater war Volksschulrektor und später in Stuttgart Oberschulrat. Hans-Jörg Kimmich trat am 1. November 1938 als Fahnenjunker ins Infanterieregiment 119 ein, kämpfte ab 1939 in Frankreich, danach in Russland. Beim Rückzugskampf 1944 am Dnepr brachte er bei gegnerischer Übermacht große Teile der 78. Sturm-Division in Sicherheit und wurde dafür mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet.

Nach dem Krieg und nach dem Jura-Studium machte Kimmich Karriere als Verwaltungsrichter. Sie führte ihn zum Verwaltungsgerichtshof Mannheim, wo er bis 1985 Recht sprach, zuletzt als Präsident eines Senats. Als Schüler und Vertrauter des »Verfassungsvaters« Carlo Schmid, dessen Sekretärin Mathilde Alt er heiratete, gehörte Kimmich zu dem Kreis von Personen, die 1949 in Tübingen den Internationalen Bund für Kultur- und Sozialarbeit (IB) gründeten.

Dessen erster Zweck war, ehemalige HJ-Führer und entwurzelte junge Männer mit sinnvollen Arbeiten zu beschäftigen und ihnen die Demokratie nahezubringen. Kimmich übernahm im IB führende Funktionen. 1991 ehrte ihn der Bundespräsident mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. (rawei)

Die Franzosen drohten, 30 Männer als Vergeltung zu erschießen, ließen aber davon ab, weil französische Kriegsgefangene, die von den Genkinger Bürgern gut behandelt worden waren, Fürsprache hielten. Doch es gab weitere Tote. Als vier Buben einen Trümmerhaufen beim Rathaus durchsuchten, kam es zu einer Explosion, die drei der Jungen das Leben kosteten, der vierte wurde schwer verletzt.

Kimmich wurde am 28. April von einer marokkanischen Einheit bei einem Erkundungsgang auf dem Gut Hülbenhof zwischen Hayingen und Granheim gefangenengenommen. Sein militärischer Einsatz am Albrand nötigte dem Gegner Respekt ab. Der legendäre Marschall Jean de Lattre de Tassigny erwähnte Kimmich später anerkennend in seinen Memoiren.

Und sein letzter großer Einsatz in Genkingen hatte für Kimmich schließlich keine beruflichen Auswirkungen. Der Politische Landesbeirat in Tübingen revidierte die vorherigen Einschränkungen und erhob gegen die Ausbildung zum Juristen keine Einwendungen. »Er durfte bei der Verteidigung des Albrands im guten Glauben gehandelt haben«, urteilte der Landesbeirat, »der Ausschuss hält ihn in Anbetracht seiner Jugend für entwicklungsfähig.« Nur eine Verwendung in erzieherischer Tätigkeit komme »mit Rücksicht auf seine militärische Tradition« nicht in Frage. (GEA)