KREIS REUTLINGEN. Lust auf Bio-Produkte machen. Zeigen, wo sie wachsen, wie sie weiterverarbeitet werden und wie man sie geschmackvoll zubereitet. Und Verständnis dafür wecken, dass gute Lebensmittel keine Selbstverständlichkeit sind, sondern oft mit viel Aufwand und hohem Risiko erzeugt werden und deshalb ihren Preis haben. Um all das geht es bei den Ökoo-Aktionswochen, die das Land Baden-Württemberg nun zum fünften Mal in Folge ausgerufen hat. Sechs Wochen lang öffnen Betriebe ihre Türen für Besucher, um Einblicke in ihre Arbeit zu geben (siehe Info-Box). Eröffnet und vorgestellt wurde die Aktion in Hayingen-Ehestetten von Staatssekretärin Sabine Kurtz, Staatssekretärin im Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz. Mit dabei waren zahlreiche Vertreter aus Politik, Landwirtschaft und Gastronomie.
»Wir wollen den biologischen Landbau voranbringen, bis 2030 sollen 30 bis 40 Prozent der Agrarflächen ökologisch bewirtschaft werden«, umriss Kurtz das »ehrgeizige Ziel«. Dazu braucht es nicht nur Landwirte, die bereit sind, ihre Betriebe entsprechend umzustellen, sondern vor allem auch Abnehmer für deren Produkte, die idealerweise in allen Küchen verarbeitet werden - zuhause, in der Schulmensa, in der Kantine und im Gasthaus. »Deshalb richten wir das Scheinwerferlicht auf die Öko-Anbau-Tradition familiengeführter Betriebe«, betonte die Staatssekretärin. Ihr Ministerium wolle »Wertschöpfungsketten verlängern und vertiefen«.

Gastgeber für die Auftaktveranstaltung war die Gastronomen-Familie Tress in Ehestetten, die schon viel von dem verkörpert, was das Land sich wünscht. Vor mehr als sieben Jahrzehnten schon hat Johannes Tress auf ökologische Lebensmittel auf dem Feld und in der Küche des Gasthauses »Rose« umgestellt und gehörte damit zu den absoluten Pionieren auf der Alb. »Tress hat Vorbildfunktion und Symbolwirkung für die ganze Branche«, betonte Christoph Reiber im Namen der Arbeitsgemeinschaft ökologischer Landbau in Baden-Württemberg (AÖL) und des Demeter-Verbands, der in diesem Jahr hundert Jahre biologisch-dynamischen Landbau feiert. Das gilt nicht nur für den Gründer Johannes, sondern auch für die, die sein Erbe weitertragen. Sohn Johannes ist jung gestorben, die Enkel Simon, Daniel, Christian und Dominik aber haben mit Mutter Inge ein kleines Imperium aufgebaut. Bis heute gilt die Devise: »Die Natur macht den Teller«, so Simon Tress, der sich mit seinem Bio-Spitzenrestaurant 1950 in diesem Jahr seinen ersten Michelin-Stern erkocht hat.
Auf besagten Teller wandert das Gemüse nicht von selbst: Wo und wie es angebaut wird, durften die Gäste selbst sehen. Schauplatz der Eröffnung der Bio-Aktionswochen war der Acker, auf dem Heidrun König alles kultiviert, was die Familie Tress so braucht - von Möhren über Mangold bis hin zu Kohl und Kürbis. Im Frühjahr und Sommer alles frisch zu ernten und zu verarbeiten, ist relativ einfach. Mit den Vorräten über den Winter zu kommen, ist eine ganz andere Hausnummer - das setzt viel Wissen voraus und macht auch Arbeit. Im Keller einlagern, einfrieren, einmachen, fermentieren, trocknen - Simon Tress weiß, was Großmutter schon wusste und arbeitet mit den althergebrachten Methoden, um Lebensmittel zu konservieren.
Bio-Musterregion bringt Öko-Lebensmittel in die Kantinen
Die Konzentration auf das regional Verfügbare ist der zentrale Baustein seines radikalen Konzepts fürs Spitzenrestaurant 1950. Dort werden ausschließlich Zutaten aus einem Umkreis von 25 Kilometern verarbeitet. Einzige Ausnahme: Salz. Konsequent ist Simon Tress auch darin, möglichst wenig wegzuschmeißen. Verarbeitet wird immer das ganze Tier - und das ganze Gemüse. Für ihn gibt es keinen »Abfall«, nur »Beifall«, aus Karottengrün oder Petersilienstängeln macht er zum Beispiel Pestos. In seinem Gemüse-Labor, das zum Jahresende an den Start gehen soll, will er mithilfe wissenschaftlicher Unterstützung noch weiter daran tüfteln, wie man Gemüse bis zur letzten Faser nutzt.
»Wir brauchen unser Licht nicht unter den Scheffel zu stellen, was die Produktion, die Vermarktung und den Konsum von ökologischen Lebensmitteln angeht«, zeigte sich Landrat Ulrich Fiedler als Repräsentant des Landkreises Reutlingen selbstbewusst. Formate wie die »Gläserne Produktion« geben Einblicke in bäuerliche Betriebe: »Es ist ganz wichtig, Verständnis für die Abläufe in der Landwirtschaft zu schaffen, dann fällt's dem Verbraucher auch leichter, am Marktstand oder am Supermarktregal zum richtigen Produkt zu greifen.«
Nach einem Höhenflug in Corona-Zeiten tut sich die Bio-Branche derzeit wieder schwerer, berichtete Jens Müller, Geschäftsleiter Vertrieb der Schwarzwaldmilch-Gruppe. Durch Ukraine-Krieg, Inflation und wirtschaftliche Unsicherheit sei das Thema Nachhaltigkeit beim Endverbraucher wieder »ein ganzes Stück in den Hintergrund gerückt«. Für die Milchbauern, die sein Unternehmen beliefern, ist Bio durchaus interessant. Derzeit sind rund 27 Prozent der Schwarzwaldmilch-Produkte ökologisch hergestellt, ginge es nach dem Müller und den Erzeugern, dürften es noch etliche Prozent mehr sein: »Wir haben etliche Landwirte in der Warteschleife.«
Mehr Bio für Kantinen und Schulküchen
Um noch mehr Menschen davon zu überzeugen, dass hochwertige heimische Lebensmittel ihr Geld wert sind, setzen Politik und Produzenten auch auf Projekte wie die »Bio-Musterregion«: Das Biosphärengebiet Schwäbische Alb trägt diesen Titel seit November 2021. Die ursprüngliche Laufzeit wurde nach zwei Jahren und einer erfolgreichen Zwischenbilanz vom Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz verlängert: Die vom Land geförderten Projekte können somit bis Oktober 2027 weiter umgesetzt und ausgebaut werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Außer-Haus-Verpflegung, wie der in der Geschäftsstelle des Biosphärengebiets unter anderem für das Projekt zuständige Rainer Striebel berichtete.
Vor drei Jahren startete das Projekt mit 20 Pilotbetrieben - Schulen, Kantinen und Kliniken, die nun als Multiplikatoren für das Konzept werben. Bio und regional? »Viel zu kompliziert!« Das war und ist oft die erste Reaktion, das war auch bei Stefan Thumsch und Michael Ruß nicht anders. Thumsch ist Geschäftsführer der Kochwerk Catering GmbH. Das Tochterunternehmen der ElringKlinger AG in Dettingen/Erms ist für die Kantine zuständig. Inzwischen ist das Unternehmen bio-zertifiziert, rund 20 Prozent der Lebensmittel, die Küchenleiter Michael Ruß und sein Team verarbeiten, sind »Bio« und stammen von Erzeugergemeinschaften und bäuerlichen Betrieben in der Region.
»Die Hauptherausforderungen sind die Verfügbarkeit von Lebensmitteln über die Jahreszeiten hinweg und die großen Mengen, die wir brauchen«, so Thumsch. Aber: Wenn man miteinander redet und gut plant, klappt fast alles. Spontan große Mengen liefern können kleinere Betriebe zwar nicht - mit Vorplanung ist aber vieles möglich. Nicht nur die Verfügbarkeit am Markt, sondern auch der Zustand, in dem die Ware in den Großküchen ankommt, ist ein wichtiger Punkt, an dem noch Verbesserungsbedarf in der Wertschöpfungskette besteht: Mit Blick auf Hygienevorgaben, aber auch auf die oft nicht besonders üppige Personaldecke wünschen sich die Abnehmer zum Beispiel geschälte Kartoffeln, geputztes Gemüse und Flüssig-Ei ohne Schale. Auch die Tress-Brüder wissen, wie wichtig dieser Aspekt ist und bauen darauf ein weiteres großes wirtschaftliches Standbein für ihr Familienunternehmen auf: In der Kantine eines Automobilherstellers mit Stern in der Landeshauptstadt wird bald Mittagessen von der Alb serviert, verrät Dominik Tress - die Komponenten für die Bio-Menüs sind zur Hälfte vorgefertigt, den Rest macht das Personal in der Küche vor Ort. Mit weiteren Unternehmen und einem Freizeitpark sind die Tress-Brüder derzeit ebenfalls im Gespräch. (GEA)
Über 100 Veranstaltungen im ganzen Land
Bei den Öko-Aktionswochen wird das Engagement der ökologischen Agrar- und Ernährungswirtschaft für Jung und Alt mit allen Sinnen sichtbar, erlebbar und begreifbar gemacht. Veranstalter sind das Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg und die MBW-Marketinggesellschaft. Die Verbände des ökologischen Landbaus unterstützen und begleiten die Öko-Aktionswochen als Kooperationspartner. Sechs Wochen lang werden im Rahmen der diesjährigen Öko-Aktionswochen von jetzt an bis 31. Oktober unter dem Motto »Baden-Württemberg is(s)t Bio« insgesamt rund 100 Erlebnisse wie Besichtigungen, Wanderungen, Kochkurse oder Radtouren in ganz Baden-Württemberg für interessierte Verbraucherinnen und Verbraucher angeboten. Einige Termine gibt es auch im Kreis Reutlingen. Am 29. September ist Bio-Bauernmarkt in Metzingen, der Biohof Gorzelany in Kochstetten zeigt am 20. September in einem Seminar, »wie Vielfalt Boden fruchtbar macht«. Am 11. Oktober ist eine Führung durch die Römersteiner Mühle in Böhringen geplant und am 26. Oktober öffnet Martin Länge seine Christbaumkultur »Albtanne« in Bad Urach-Hengen für Interessierte. Eine Liste aller Veranstaltungen gibt es unter www.öko-aktionswochen-bw.de/veranstaltungen. Der Reutlinger General-Anzeigerbietet zudem eine exklusive Leserfahrt für seine Abonnenten an: Am Donnerstag, 24. Oktober, steuert die Reisegruppe die Käserei Bauhofer in der Allgäu-Bodensee-Region an. Dort entstand der erste Bio-Hartkäse Deutschlands, ein Emmentaler, aus der Milch des Bioland-Erzeugers Rösslerhof in Schlier im Landkreis Ravensburg. Mit Führung und Verkostung von Bio-Käsesorten, einem Mittagessen im Bio-Restaurant Adler in Vogt und anschließender Führung über den Rösslerhof erfahren GEA-Leser an einem Tag viel über hochwertig produzierte Bio-Lebensmittel. Weitere Informationen folgen in Kürze, achten Sie auf die Anzeige. (GEA)