GOMADINGEN-GRAFENECK. Rüdiger Böhm fühlte sich unvermutet hineingeworfen in diese Aufgabe als neuer Vorsitzender des Vereins Gedenkstätte Grafeneck, wie er selbst am Samstag bei der Mitgliederversammlung ausführte. Sein Vorgänger Mike Münzing habe bei einer Vorstandssitzung am 11. November 2024 seinen Rücktritt mit sofortiger Wirkung erklärt. Daraufhin sei der restliche Vorstand und der Beirat auf Böhm zugekommen, »mit der Bitte, den Vorstandsvorsitz zu übernehmen«, erläuterte der ehemalige Chef von Mariaberg.
Zunächst zögerte Böhm, stellte Bedingungen. »Am 13. Januar dieses Jahres habe ich mich dann bereit erklärt, den Posten zu übernehmen«. Warum aber Mike Münzing, der am Samstag nicht vor Ort war, nach 21 Jahren Vorstandstätigkeit bei der Gedenkstätte abrupt den Leitungsposten hingeworfen hatte? »Ist er von der Ministerialverwaltung abgekocht worden«, wollte ein Vereinsmitglied am Samstag wissen. »Das müssen Sie Mike Münzing selbst fragen«, so Böhm. »Eines aber ist klar: Die Gründe für seinen Rücktritt waren vielfältig.«
Enorme »Frustration« über die Frage des Erwerbs und der weiteren Gestaltung des Schlosses seien auf jeden Fall ein Puzzleteil darin, wie Rüdiger Böhm betonte. Der neue Vorstand erinnerte weiter daran, dass Münzing 2003 die Verantwortung für die Vereinstätigkeit übernommen hatte. »Er hat die Gedenkstätte aus einer tiefen Krise herausgeführt.« Für das Dokumentationszentrum wurde unter seiner Leitung ein Konzept entworfen – und auch gebaut. »Mike Münzing war und ist ein Netzwerker«, so Böhm. Was auch dazu geführt habe, dass die Zuschüsse vom Land beständig gestiegen sind.
Münsingens Bürgermeister habe es geschafft, dass die Gedenkstätte heute weitgehend barrierefrei ist und dass sie immer öfter auch von Menschen mit Behinderungen aufgesucht werde. »Grafeneck ist die meistbesuchte Gedenkstätte in Baden-Württemberg und gar die meistbesuchte NS-Euthanasie-Gedenkstätte in ganz Deutschland.« Die Erinnerungskultur sei Münzing ein enormes Anliegen, so Böhm.
»Sein ehrenamtliches Engagement hat die Gedenkstätte Grafeneck maßgeblich mitgeprägt«, so sein Nachfolger. Ausdrücklich formulierte er den dank des Vorstands, des Beirats und der Mitglieder. »Ich würde ihm gerne ein Stück Zeit schenken«, sagte Böhm. Zwei Übernachtungen auf der Bodensee-Halbinsel Höri erhalte Mike Münzing als Geschenk.
Doch wie geht es nun weiter mit der Gedenkstätte und dem Schloss? Eine Fördermöglichkeit durch den Bund sei fehlgeschlagen, Rüdiger Böhm, ebenfalls ein Netzwerker, habe den Kontakt zu Barbara Bosch als Staatsministerin für das Ehrenamt gesucht, die wiederum die Landtagsverwaltung kontaktierte, die für Gedenkstätten zuständig sei. »Ich hoffe, noch vor den Sommerferien mit einer kleinen Runde zusammenzukommen, die tatsächlich auch Entscheidungen treffen kann«, sagte Böhm. Das Ziel sei eine Klärung der Frage, ob das Land sich am Schloss, der Sanierung und Instandhaltung, beteiligen werde. Denn: »Es kann nicht sein, dass wir als kleiner Verein so ein großes Projekt stemmen.«
Immerhin sei Staatssekretär Arne Braun aus dem Wissenschaftsministerium in Grafeneck gewesen, habe eine Empfehlung abgegeben. »Das Schloss muss in die Hände des Landes übergehen«, forderte Böhm. »Momentan gibt es da ein absolutes Vakuum, da ist nichts geklärt.« Ungeklärt sei zudem, ob die Landeszentrale für politische Bildung sich bereit erklären wird, eine weitere hauptamtliche Stelle für Grafeneck zu finanzieren.
Denn: »Wir mussten im vergangenen Jahr zahlreiche Besuchergruppen abweisen«, hatte auch der hauptamtliche Leiter der Gedenkstätte Thomas Stöckle in seinen Ausführungen betont. Kathrin Bauer führte ebenfalls als Fachkraft am Samstag aus, dass 2024 insgesamt 364 Gruppen durch Grafeneck geführt wurden. Hinzu kamen 149 Seminare und 127 Workshops. Die Hälfte der Besuchergruppen seien Schulklassen, darunter viele aus dem sozialen Bereich. Geführt würden aber auch zahlreiche Angehörige, deren Vater, Mutter, Kinder, Verwandte in Grafeneck ermordet wurden.
Bei den anstehenden Wahlen wurden Rüdiger Böhm, Rebecca Hummel, Christian Sigg und Dr. Claudia Zonta zu den neuen Vorstandsmitgliedern gewählt. Mike Münzing und Andrea Boysen kandidierten hingegen nicht mehr. »Demokratie lebt nur, wenn sie tagtäglich erkämpft wird«, betonte Böhm in einem abschließenden Fazit über die Arbeit in der Gedenkstätte Grafeneck. (GEA)