GAMMERTINGEN-MARIABERG. Weg von Zuhause und etwas Sinnvolles tun: Der Zivildienst hat vielen jungen Männern die Welt näher gebracht. Den jungen Rüdiger Böhm zog es von den Fildern auf die Alb, nach Mariaberg. Dass es Zivildienst und nicht Wehrdienst werden sollte, war ihm klar, nach Mariaberg hatte seine Mutter einige Kontakte, hatte Spenden für Mariaberg gesammelt, und die Pflege hat ihn gereizt. Es herrschte - wie heute auch - Personalnot, anders als heute wurden die jungen Pfleger aber überdurchschnittlich gut bezahlt: »Doppelt so viel wie ein Lehrling«, Geld, das man fern von Mutters Küche auch gebrauchen kann. Allerdings wurde auch 50 Stunden die Woche im Schichtdienst plus Bereitschaft gearbeitet.
Zivildienst oder ein Pflichtjahr hält der Ex-Zivi »nach wie vor für das Richtige«. In Mariaberg gab es die Möglichkeit, schon während des Zivildienstes in eine Ausbildung einzusteigen, Böhm wurde erst Heilerziehungshelfer, dann - pfleger. Er blieb in Mariaberg, »man kann schon sagen, dass ich da hängengeblieben bin«. Böhm hat neun Brüder und Schwestern, er ist der Einzige der starken Truppe, der nicht studiert hat. »Meine Eltern - er Arzt, sie Lehrerin - haben gut in uns investiert.« Seiner Karriere hat der Verzicht aufs Studium nicht geschadet, In Mariaberg wird auch heute noch mehr Wert auf Einsatz und Ideen gesetzt als auf Titel.
In den 50 Jahren ist Mariaberg stetig gewachsen, von 330 Mitarbeitern 1973 auf rund 1.700 heute. Für den engagierten Nachwuchs gab es immer neue Aufgabenbereiche. Auch weil sich die Pflege ständig verändert und weiterentwickelt hat. Anfang der 1970er-Jahre waren die Pflegeeinrichtung noch eher Heime, Verwahreinrichtungen mit Mehrfachzimmern. Das ist lange vorbei, Menschen mit Einschränkungen sollen am gesellschaftlichen Leben teilhaben, ein großer Teil der Mariaberger Klienten lebt mittlerweile in Wohnungen weit weg vom Berg.
Daraus erwachsen neue Anforderungen, Mariaberg verändert sich, weg vom »Heim«, hin zu einem Stadtteil mit einer bunt gemischten Bevölkerung. »Umgekehrte Inklusion«, die Eingliederung von »Normalos« in Mariaberg, nennen das die Verantwortlichen, »von der Anstalt zum Ortsteil.« Denn einfach weniger Mariaberger ist keine Option. Die Infrastruktur muss aufrechterhalten werden, Kanalisation, Straßen, Werksfeuerwehr: Der Geschäftsführer auf dem Berg ist so etwas wie ein Bürgermeister. Und ein Bürgermeister braucht Geld und Einwohner bringen Geld aus den verschiedenen Steuer- und Fördertöpfen. Oder eben aus den Töpfen, mit denen die Behindertenarbeit finanziert wird. Die Landschaft ist dabei ständig im Umbruch, da hilft es, dass Rüdiger Böhm mehr als gut vernetzt ist und sich auf dem Laufenden hält. Zur morgendlichen Pflichtlektüre gehört nicht der Sportteil des GEA, sondern Veröffentlichungen über Gesetzesvorlagen in Arbeit.
Experte in der Sozialgesetzgebung
Etwa die Landesheimbauverordnung. Die hat ihm sein damaliger Chef Karl-Rudolf Eder, der von 1966 bis 1997 Mariaberg geleitet hatte, »voll aus Auge gedrückt.« Er habe ihn gefordert und gefördert, ist Böhm dankbar. Um die Details der Umwandlung von Dreibett- in 12-Quadratmeter-Einzelzimmer hat er schon damals mit dem Sozialministerium gerungen. »Für einen jungen Mann war das eine Super-Sache.«
Daran hat sich über die Jahre nichts geändert. Böhm ist vielleicht tiefer drin in der Sozialgesetzgebungsmaterie als irgendjemand sonst in der Republik. »Wir sind in allen fünf Sozialgesetzbüchern unterwegs«, sagt er, und bezieht sich auf die Vielfalt der Leistungen, die in Mariaberg angeboten werden. Integrative Kindertageseinrichtungen, familienstützende Dienste, ein Fachkrankenhaus für Kinder- und Jugendpsychiatrie, diverse Gesundheitsdienste, Sonderschulen, Werkstätten, der landwirtschaftliche Teil - da ist wenig, was es auf Mariaberg nicht gibt. Und Böhm hat alles begleitet, von der Idee bis zum Bau der notwendigen Häuser. »Ich hab jedes Gebäude gefühlt zweimal umgebaut«, lacht er. Mariaberg entwickelt sich weiter, das Stadtteilentwicklungskonzept ist kein Projekt, dass irgendwann einen Abschluss findet.
Mariaberg muss rentabel arbeiten. »30 Prozent unserer Mittel kommen aus Zuschüssen, 70 Prozent müssen wir selbst erwirtschaften«, rechnet er vor. In den vergangenen Jahren wurde das nicht leichter. Corona hat »mordsmäßige Lücken« ins Budget gerissen: »Wir hatten Personal gefunden und eingestellt und dann kam der Aufnahmestopp.« Das Geld fehlt heute noch, obwohl »wir jeden Rettungsschirm angefahren haben, das muss man halt machen«. Aktuell machen die gestiegenen Energiepreise der Einrichtung zu schaffen, »das können wir nicht weitergeben. Daimler kann seine Preise erhöhen, wir unserer Pflegesätze nicht«. Also jedes Gebäude, jedes Dach, jede Heizung anschauen. »Zum Glück haben wir schon vieles hinter uns, was später Vorschrift wurde.«
Wenn er nicht am Bauen, Gesetze lesen, Gesetze gestalten ist, besucht er die Außenstellen von Mariaberg. »Ich kann nicht mehr jeden Klienten, nicht mehr jeden Mitarbeiter mit Namen. Aber ich will nach wie vor alles gesehen haben. «
Wie der Mann noch Zeit für ein Hobby findet, bleibt ein Rätsel. Kirchliche Bauwerke faszinieren ihn, die Faszination wuchs, womit auch sonst, mit einem Mariaberger Projekt, der Sanierung des Klosters in den Jahren 1983 bis '86. Das Gebäude war »vollkommen heruntergewirtschaftet«, hier waren bis unters Dach Wohngruppen untergebracht. Er musste sich als Projektleiter mit Architektur, Kirchenarchitektur, beschäftigen, es »wurde zur Sucht«. Fürs Oberschwäbische Barock dürfte er jetzt mehr Zeit haben und er freut sich drauf. Auch wenn er das Fazit zieht: »Es hat einen Riesenspaß gemacht.« (GEA)