ENGSTINGEN-KOHLSTETTEN. Die Marienkirche, ein Kleinod in Kohlstetten mit einer einzigartigen Architektur, wird zur Radwegekirche. Die Idee hatten Pfarrer Martin Breitling - er hat Kohlstetten Ende Mai verlassen - und der Kirchengemeinderat bereits zu Coronazeiten. Die Pandemie hatte ja auch gute Seiten, Radfahren kam groß in Mode, das Lautertal war - und ist - ein beliebtes Ziel. Warum also nicht auch innere Einkehr anbieten?
Katholische Kirchen sind tagsüber geöffnet, evangelische nicht, so will es die Tradition. Oder wollte es bis vor einiger Zeit. Für Protestanten sei eigentlich ein Sakralbau nicht wichtig, erklärte Pfarrer Breitling, das Wort ist bedeutender. Der Wunsch, die besondere Atmosphäre einer Kirche zu fühlen, ist aber da. Die Marienkirche ist daher schon seit einigen Jahren »Verlässlich geöffnete Kirche«, kann von Ostern bis zum Reformationstag von 9 bis 19 Uhr besucht werden.
Und jetzt auch Radwegekirche. Für die Kennzeichnung müssen einige Eigenschaften erfüllt sein. Die Kirche muss zugänglich sein, auch außerhalb von Gottesdiensten, das passt. Der Kirchenraum lädt zu Besinnung und zu Gebet ein, das ist in der Marienkirche ohne Zweifel gegeben. Über die Bedürfnisse der Gläubigen hinaus zielt das Konzept natürlich auf Radfahrer. Hier kann Kohlstetten mit seinen Pfunden wuchern. Auch wenn der eine oder andere am Ort vorbeiradelt, Kohlstetten liegt in einem Radfahrhotspot. Auch Pfarrer Breitling hat seine Gemeinde lange vorm Amtsantritt mit dem Rad entdeckt. Das Lautertal ist nicht weit weg, die Lauterquelle nebst Gestütsmuseum und Gestütsgasthof sind bequem erreichbar. Am Radweg unten am Kohlstetter Bahnhof reißt an schönen Tagen die Kette der Radler nicht ab. Drumherum oder nicht weit weg locken Wacholderheiden, Burgruinen, Wälder und Blumenwiesen. Und einiges an Gastronomie.
Schönster Fleck der Alb
Allerdings fahren viele an einem der schönsten Flecken vorbei, der Dorfmitte von Kohlstetten. Denn sie ist etwas Besonderes, ein einmaliges Ensemble. Kirche, Gemeindehaus, Pfarrhaus und Friedhof stehen auf dem höchsten Punkt des Ortes. Die Erbauer der Marienkirche - sie wurde 1161 zum ersten Mal urkundlich als Kirche »Unserer lieben Frau« erwähnt - hatten einen Blick für einen guten Immobilienstandort. Oder vielleicht auf mögliche Angreifer, die sich besser bergauf vorankämpfen sollten, davon zeugt die Friedhofsmauer. Vorm Gemeindehaus wirft eine mächtige Kastanie ihren Schatten, darunter steht der Kohlstetter Tisch, ebenfalls eine Errungenschaft des Dorfes. Und außer Kirchenglocken - muss ja - und Vögeln ist trotz der zentralen Lage selten was zu hören. Hier ist gut sein, die Kastanie sorgt bei sonnigem Wetter für Münchner Biergartengefühl ohne Blasmusik. Ein Ort für die Rast, wie ihn Radwegekirchen haben sollten. Platz für Fahrräder mit Gepäck gibt es genug, sogar eine Ladestation für E-Bikes. Bitte Ladekabel mitbringen, rät Rudi Giest-Warsewa, aber eine Steckdose ist da. Und an der Ladestation hat eines der Engstinger Böckle, der E-Lastenräder, seinen Platz. Und kann kostenlos über lastenrad@fafre.de reserviert werden. Verpflegung gibt es im Kohlstetter Laden, samstags hat er von 7 bis 12 Uhr geöffnet, dienstags, donnerstags und freitags jeweils von 6.30 bis 8.30 Uhr und von 15 bis 18 Uhr.
Biergartenatmosphäre unter der Kastanie
Die Wasserflaschen können gefüllt, das Vesper verzehrt werden, und ein stilles Örtchen gibt's im Gemeindehaus. In der Kirche gibt es das, was der Radfahrer braucht. Geistliche Texte, aber auch handfeste Informationen rund ums Rad und zu Touren, Sehenswürdigkeiten und Übernachtungsmöglichkeiten liegen bereit. Wer zur rechten Zeit da ist, kann vielleicht eine der wiederkehrenden Kunstausstellungen in der Marienkirche mitnehmen, die Location hat sich in der Kunstszene mittlerweile herumgesprochen. Sonst reichen die einzigartigen Wandmalereien aus dem späten 15. Jahrhundert.
Kohlstetten sei der ideale Einstieg in eine Albtour, meint der erfahrene Radler Breitling. Engstingen kann auch mit Bus und Auto leicht erreicht werden, die Radwegekirche liegt nahe zahlreicher, gut ausgeschilderter Radwege, zum Beispiel gen Offenhausen und von dort weiter die Lauter runter. Also nichts wie hin zur neuen Radwegekirche. Landschaft, Geschichte, Einkehr - ein dreifacher Genuss, meint Rudi Giest-Warsewa. (GEA)