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Wie Kinder leiden, wenn die Eltern sich streiten

Gisela Bluhm-Kiefer arbeitet als Familienmediatorin. Das Wohl der Kinder im Blick

Wenn Eltern sich streiten, leiden oft die Kinder darunter. Oft genug enden die Auseinandersetzungen vor Gericht. GRAFIK: BLUHM-K
Wenn Eltern sich streiten, leiden oft die Kinder darunter. Oft genug enden die Auseinandersetzungen vor Gericht. Foto: BLUHM-KIEFER
Wenn Eltern sich streiten, leiden oft die Kinder darunter. Oft genug enden die Auseinandersetzungen vor Gericht.
Foto: BLUHM-KIEFER

ENINGEN. »Der Beruf meiner Frau nötigt mir größten Respekt ab«, sagt Joachim Kiefer. »Ich glaube, sie hat Ihnen im Rahmen Ihrer Serie ›Menschen links und rechts der Straße‹ viel zu erzählen.« Ein paar Tage später parkt das GEA-Mobil in Eningen. Die Häuser in dieser Wohngegend sind gepflegt, die Vorgärten akkurat, gehobener Mittelstand mit reichlich Grün. Hier wohnen Gisela Bluhm-Kiefer, ihr Mann und die jüngste Tochter. »Sie hat gerade ihr Corona-Abi hinter sich gebracht«, sagt die Diplom-Pädagogin. Die beiden anderen Töchter leben und arbeiten in München.

Gisela Bluhm-Kiefer studiert zunächst in Tübingen Erziehungswissenschaften, Psychologie und Soziologie, ehe sie eine Ausbildung als Verfahrensbeistand und Familienmediatorin macht, um Kinder vor Familiengerichten vertreten zu können. »Mir war bewusst, dass es nicht ausreicht, nur auf die Kinder zu schauen bei Trennungsfällen oder anderen familiären Streitigkeiten. Man muss die Eltern ins Boot bekommen, damit sich etwas bewegt«, sagt die 59-Jährige.

»Ich wollte nur noch an der Schnittstelle zum Gericht tätig sein«

»Ich habe zwölf Jahre in der Erziehungsberatungsstelle des Reutlinger Jugendamtes gearbeitet.« Ihre Klientel sind getrennt lebende, hochkonflikthafte Eltern. Sie findet hier die gesuchte Herausforderung, und die Arbeit macht mit wachsender Erfahrung mehr und mehr Freude. »Deshalb habe ich mich mit einem weinenden Auge vor vier Monaten entschieden, mich selbstständig zu machen. Ich wollte aber nur noch an der Schnittstelle zum Gericht tätig sein. Hier lässt sich am meisten bewegen.« Dass sie einmal in diesem Beruf landen wird, hätte sie nicht gedacht. »Ich fürchtete mich immer vor familiären Auseinandersetzungen, weil ich selbst ein Scheidungskind bin.« Seit 35 Jahren bekommt sie Einblicke in Familien, die einen Außenstehenden erschüttern würden. Viele dieser Familiendramen landen vor Gericht. Dramen, die Seelen entzünden.

Gisela Bluhm-Kiefer hat sich vor vier Monaten selbstständig gemacht.  FOTO: DÖRR
Gisela Bluhm-Kiefer hat sich vor vier Monaten selbstständig gemacht. FOTO: DÖRR
Gisela Bluhm-Kiefer hat sich vor vier Monaten selbstständig gemacht. FOTO: DÖRR

Vor Gericht werden Weichen gestellt für hochsensible Lebensbereiche der Kinder: Bei welchem Elternteil sollen sie leben? Wie sehen die Besuchskontakte zum anderen Elternteil aus? Der Fokus liegt dabei immer auf dem Wohl der Kinder. Gisela Bluhm-Kiefer wird von den Richtern bestellt, wenn Eltern nach einer Trennung gegensätzliche Lebenspläne haben. Die Richter sind in ihrer Bewertung autonom. »Aber das, was Gerichte entscheiden, bedeutet nicht gleichzeitig, dass dies nachher in den Familien auch so gelebt wird.« Damit ein tragfähiger Abschluss gefunden werden kann, spricht Gisela Bluhm-Kiefer mit den Kindern, Eltern und manchmal Lehrern, Erziehern oder Großeltern.

Es ist ihre Aufgabe, dem Gericht den Willen des Kindes zu vermitteln – was bei einem Vierjährigen schwierig ist. »Deshalb besuche ich die Familien zu Hause, damit das Kind mich in seiner gewohnten Umgebung kennenlernen kann.« Sie interessiert sich für den Alltag in Schule oder Kindergarten, für Freunde, für Hobbys. »Nur wenn das Kind zu mir Vertrauen fasst, kann es sich öffnen.«

Immer wieder stellt sie fest, dass Eltern ganz unterschiedliche Sichtweisen haben, die überhaupt nicht zusammenpassen. Jeder Elternteil hat seine »Lieblingslösung« im Kopf. Dass Vater oder Mutter die Mediatorin auf ihre Seite ziehen wollen, sei durchaus legitim. »Jeder will vor Gericht Recht bekommen, will endlich einmal gewinnen.« Professionelle Distanz ist deshalb unabdingbar. »Es ist höchstes Fingerspitzengefühl erforderlich, wenn Eltern ›Krieg‹ miteinander führen.« Trotzdem enden manche Verfahren nach jahrelangem Tauziehen vor dem Oberlandesgericht. »Das kann dazu führen, dass das Kind sich komplett verweigert und den Kontakt zu einem Elternteil abbricht als letzte Möglichkeit, um wieder Frieden und Ruhe in seinem Leben zu finden.«

»Manche Kinder haben drei oder vier Therapien hinter sich. Dabei wären es die Erwachsenen, die eine Behandlung nötig hätten.« Manchmal fangen Kinder an, sich selbst zu verletzen oder andere zu gefährden. »Dann muss es womöglich gegen seinen Willen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie untergebracht werden. Das ist zum Glück selten der Fall.«

»Deshalb ist es wichtig, dass die Eltern wieder in einen Dialog kommen«

Anders als in Beratungssituationen beispielsweise beim Jugendamt steht bei den Verfahren, die Gisela Bluhm-Kiefer begleitet, am Ende ein Ergebnis. »Der Richter ist heute aus Sicht des Gesetzes in erster Linie damit beschäftigt, ein Einvernehmen zwischen beiden Elternteilen zu erzielen. Diese Aufgabe reicht weit über das hinaus, was im Jurastudium gelernt wird.« Wenn eine Vereinbarung nicht zustande kommt, bleibt als letzte Konsequenz der richterliche Beschluss.

»Mit dem Abschluss des Verfahrens vor Gericht endet meine Tätigkeit. Dann sind andere Stellen wie zum Beispiel das Jugendamt am Zug, um weitere Hilfen zu gewähren.« Dass es Fälle gibt, die zu keiner Einigung führen, kommt immer wieder vor. »Nicht oft, aber sie gibt es.« Dies hänge auch mit der Persönlichkeit eines Elternteils und der oftmals sehr subjektiven Sichtweise von Vater oder Mutter zusammen. »Das ist besonders traurig, weil die Auseinandersetzung durch alle gerichtlichen Instanzen geht. Am Ende gibt es nur Verlierer, zum Leidwesen der Kinder.«

Schwierig werde es, wenn sich die Kinder verantwortlich fühlen für das, was in der Familie passiert. »Es ist nicht möglich, von heute auf morgen ein intaktes Familienleben zu schaffen. Bis dahin ist es oft ein langer Weg, der aber mit kleinen Schritten beginnt.« Gisela Bluhm-Kiefer versucht Türen zu öffnen, die zugeschlagen waren. Wenn es gelingt, sie wieder ein Stück weit zu öffnen, liege es an den Eltern, was geschieht. »Hindurchgehen können aber nur sie selbst.«

Manche Eltern sind in Trennungs- und Scheidungssituationen so auf sich selbst fokussiert, dass sie ohne Hilfe von außen keine Lösung sehen. Sie befinden sich in einer Lebenskrise. Denn wer hat schon einen Plan B, wenn nach einer glücklichen Hochzeit die Ehe doch scheitert?

Damit gerät das Selbstwertgefühl eines Erwachsenen ins Wanken, denn es ist gleichzeitig ein persönliches Scheitern. Sich das einzugestehen, falle oft schwer. »Deshalb ist es wichtig, dass die Eltern wieder in einen Dialog miteinander kommen.«

Die Voraussetzung dafür sei, dass dieser »gewaltfrei« geführt wird. »Das bedeutet, wegzukommen von Schuldzuweisungen an den anderen oder von Sprachgewohnheiten, die wir aus Auseinandersetzungen von Kindergartenkindern kennen.«

Dies gelinge nicht immer, weil es auch Charaktere gebe, die das nicht zulassen. »Was in der Regel keine intellektuellen, sondern möglicherweise psychopathologische Hintergründe hat. Es gibt Menschen, die sind in ihrem Narzissmus so gekränkt, dass ihnen ein Einlenken nicht möglich ist.« Dann treffe es die Kinder besonders schwer. »Wenn das Kind zwischen die Fronten gerät, kommt es zu einem Loyalitätskonflikt. Das Kind liebt Mutter und Vater. Wem soll es glauben? Wer hat Recht?«

»Ich bin kein Mensch, der um fünf Uhr Feierabend macht«

Zu einigen Kindern bestehe eine Verbindung über die gerichtliche Verhandlung hinaus. »Ich bin kein Mensch, der um fünf Uhr Feierabend macht. Das ist Teil meiner Natur und es macht mir deshalb nichts aus, wenn mal ein Kind am Wochenende bei mir anruft oder ich am Sonntag eine Familie besuche, weil nur an diesem Tag der Vater mit seinem Kind zusammenkommt.« In einem institutionellen Job sei das nicht möglich gewesen.

Nimmt sie die Fälle mit nach Hause? »Ich lege nicht an der Haustür meinen beruflichen Kittel ab. Es kann durchaus sein, dass am Samstagabend ein kleiner Junge anruft und darüber klagt, dass die Mutter oder der Vater ihn auf dem Balkon ausgesperrt hat, weil er wieder zum anderen Elternteil nach Hause wollte. Dann ist mein Abend gelaufen, weil Telefonate mit beiden Eltern geführt werden müssen, damit das Kind wieder zur Ruhe kommt.«

Es gibt für Gisela Bluhm-Kiefer jedenfalls keine schlaflosen Nächte, weil sie die schwierigen Fälle nicht aus dem Kopf bekommt. Es sei denn, es sind Fälle, in denen sexuelle Gewalt eine Rolle spielt. »Es kommt aber leider viel zu häufig vor, dass sexuelle Gewalt vorgeworfen wird, um einen Störenfried aus dem Leben des Kindes hinauszukatapultieren. Den Missbrauch mit dem Missbrauch wird ein Vater nie wieder los.«

Dass sie die Welt nicht retten kann, weiß Gisela Bluhm-Kiefer. »Ich weiß aber auch, dass ich mit meiner Arbeit für die Kinder etwas Positives bewirken kann. Und sei es nur, dem Kind das sichere Gefühl zu vermitteln, es ist jemand für dich da. Anders könnte ich meinen Beruf nicht aushalten.« (GEA)

 

MENSCHEN LINKS UND RECHTS DER STRASSE

Kennen Sie jemanden, über den wir berichten sollten?

Kennen Sie jemanden, der mal in der Zeitung stehen sollte? Jemanden, der etwas zu erzählen hat? Der nicht unbedingt mit dem Fallschirm aus 10 000 Metern Höhe abgesprungen oder barfuß auf den Himalaja geklettert ist, sondern der als besonderer Nachbar, als guter Freund, als toller Ehegatte, als liebenswerte Großmutter anderen Menschen Freude bereitet oder der bloß eine außergewöhnliche Geschichte zu erzählen hat? Mit diesen Menschen wollen wir uns unterhalten. Wir wollen sie zum Reden bringen und wollen ihnen zuhören, ohne selbst viele Worte zu verlieren. Falls Sie so jemanden kennen, fragen Sie ihn, ob Sie uns seine Telefonnummer oder seine Mail-Adresse geben dürfen. Wir melden uns und vereinbaren vielleicht einen Termin im Rahmen einer der nächsten Rundreisen mit dem GEA-Mobil. Wir kommen nicht unangemeldet, und wenn jemand nicht möchte, dass wir uns mit ihm unterhalten, ist das schade, aber ein »Nein« wird akzeptiert. Wann diese Geschichten erscheinen und in welcher Länge, ist Sache der Redaktion. Es gibt allerdings keine Garantie, dass jede Lebensgeschichte veröffentlicht wird. (GEA)

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