PFULLINGEN/REUTLINGEN. Aufgefallen ist ihm, dass die Filmemacherin dabei »dramaturgisch geschickt« bewusst bestimmte Eindrücke vermittelt. »Schöne Landschaftsbilder werden mit angenehmer Musik unterlegt«, beschreibt er. Dazu läuft das Spruchband »Diese Landschaften werden nicht mehr existieren« durchs Bild. »Da wird schon ein bisschen schwarz-weiß gemalt«, lautet sein Fazit.
Aber er erkennt an, dass Sabine Winkler damit die Diskussion über ein Thema in Gang gebracht hat, das für viele Bürger sonst sehr abstrakt geblieben wäre. »Sie zeigt Karten, benennt viele Beispiele und gibt Fakten richtig wieder«, erklärt er. Was ihm fehlt, ist aber ein Hinweis darauf, dass bei Weitem nicht alle Flächen, die in einen Flächennutzungsplan (FNP) eingehen, auch tatsächlich bebaut werden. Das gilt auch für den FNP des Nachbarschaftsverbands Reutlingen-Tübingen, dem Sabine Winkler ihre Aufmerksamkeit widmet. Manche Gebiete seien darin schon seit vielen Jahren oder gar Jahrzehnten als mögliche Wohn- oder Gewerbegebiete ausgewiesen, aber bis heute nicht verwirklicht, erklärt er.
»Für die Kommunen ist das reine planerische Vorsorge«, betont Ruther-Mehlis. Und er hält es in dieser Hinsicht nicht für seriös, Schätzungen abzugeben, wann wie viel davon bebaut sein wird. »Das hängt von zu vielen Faktoren ab«, meint der Professor. Und selbst wenn ein Bebauungsplanverfahren in Gang gesetzt werde, sei dessen Ausgang völlig offen: Bürger und Behörden können dazu ihre Stellungnahmen abgeben, die dann in den Entscheidungsprozess einbezogen werden. Deswegen, so findet er, greife das Bild, das Sabine Winkler in ihrem Film aufzeige, zu kurz: »Zwischen Schwarz und Weiß steckt noch eine ganze Menge anderes, und das ist bunt!«
Mit diesen »bunten« Facetten beschäftigt er sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit an der Fakultät für Landschaftsarchitektur, Umwelt und Stadtplanung sowie auch als viel gefragter Planer und Gutachter am Institut für Stadt- und Regionalentwicklung an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt in Nürtingen. Eine dieser Facetten ist die Nachverdichtung im Innenbereich von Städten und Gemeinden. Aus Sabine Winklers Sicht kommt sie viel zu kurz.
»Sie trennt leider nicht zwischen Stadtpolitik und Verwaltung«
Sie führt den Zuschauern viele teils seit langer Zeit leer stehende Gebäude und Gewerbebrachen vor Augen, die auf Entwicklung warten. »Da gibt es große Potenziale in allen Städten«, räumt auch Ruther-Mehlis ein. Nachverdichtung sei nötig, sie dürfe jedoch nicht zum Selbstzweck werden. Im Sinne einer »doppelten Verdichtung« empfiehlt er einerseits, gezielt Freiflächen zu erhalten, aber aufzuwerten, andererseits dort, wo möglich, Wohnraum zu schaffen.
In ihrem Film kritisiert Sabine Winkler, dass die Stadt Reutlingen in Hinsicht auf die mögliche Nachverdichtung nicht genügend unternehme. »Da trennt sie leider nicht zwischen Stadtpolitik und Verwaltung«, erklärt Ruther-Mehlis. Denn wann die Verwaltung in welchen Bereichen aktiv werden soll, entscheidet der Gemeinderat. Und dass die Reutlinger Verwaltung nichts unversucht lasse, um Flächen im Innenbereich für Wohnbau und Gewerbe zu nutzen, davon ist er überzeugt.
Nachverdichtung kann, je nach Gegebenheiten, ganz unterschiedlich aussehen. Geht es zum Beispiel darum, Baulücken zu schließen, dann könnten aus Sicht des Stadtplaners etwa die Baufenster vergrößert werden für Doppel- oder Reihenhäuser. »Man kann auch die Zahl der möglichen Geschosse erhöhen«, erklärt er, auf bestehende Gebäude ein Dachgeschoss aufstocken oder für sehr tiefe Grundstücke eine »Hinterlieger-Bebauung« ermöglichen. Das alles funktioniere aber nur, wenn der Eigentümer mitmache. Um das zu erreichen, müssen die Kommunen Beratung anbieten und Anreize geben. »Die Stadt Osnabrück hat zum Beispiel ein eigenes Bürgerbüro zum Thema Stadtentwicklung eingerichtet«, berichtet Ruther-Mehlis, »dort gibt es alle relevanten Informationen bis hin zur Finanzierungsberatung.«
In Baden-Württemberg gibt es schon seit Längerem ein Förderprogramm »Flächen gewinnen durch Innenentwicklung«, das Kommunen nutzen können. »Manche Städte legen aber auch eigene Förderprogramme auf«, weiß der Professor, die sollen Eigentümer dazu animieren, leer stehende Gebäude wieder dem Wohnungsmarkt zuzuführen. Mancherorts gebe es auch Wohnungsbörsen, die dem Prinzip »jung kauft alt« folgen: Ältere Wohneigentümer bieten ihre Häuser jungen Familien zum Kauf an. Ein großer Vorteil dieser Art von Innenentwicklung bestehe darin, »dass sie mit der bestehenden Infrastruktur auskommt«. Anders als für neue Wohngebiete im Außenbereich müssen keine neuen Straßen gebaut oder Leitungen verlegt werden.
»Sozialer Wohnungsbau dient oft als Lärmschutz für Eigenheime«
Dass Nachverdichtung häufig dort betrieben wird, wo es ohnehin schon eng zugeht, hat Ruther-Mehlis allerdings oft erfahren. »Das ist eine politische Entscheidung«, hebt er nochmals hervor, »dafür kann man nicht die Verwaltung verantwortlich machen.« Er kennt viele Baugebiete, in denen »der soziale Wohnungsbau als Lärmschutz für die dahinter liegenden Eigenheime« diene. In dieser Hinsicht verfolge Reutlingen aber einen anderen Weg, hier sollen Sozialwohnungen nicht erkennbar sein, damit ihre Bewohner nicht stigmatisiert werden. Wobei, wie er betont, inzwischen auch ein Angestellter im öffentlichen Dienst mit einem Jahreseinkommen von 65 000 Euro Anrecht auf einen Wohnberechtigungsschein habe.
Ganz ausgeblendet bleibt im Film das Thema Wohnungsbedarf. »Man hätte auch Wohnungssuchende einbeziehen können«, meint Ruther-Mehlis, eine weitere Facette für etwas mehr Ausgewogenheit. Allein die Nachverdichtung reicht aus Sicht des Professors nicht aus, um den tatsächlichen Bedarf an Wohnraum zu decken. Denn der hat dramatisch zugenommen. Martin Grado, Geschäftsführer der Baugenossenschaft Pfullingen, hatte dazu kürzlich auf dem Bürgerempfang der Echazstadt ein anschauliches Beispiel gegeben: Standen 1950 weniger als 20 Quadratmeter pro Person zur Verfügung, so beansprucht heute im Durchschnitt jeder Einwohner knapp unter 50 Quadratmeter. »Da spielt natürlich die Wohlstandskomponente eine große Rolle«, erklärt Ruther-Mehlis, »es geht uns heute sehr viel besser als in der Nachkriegszeit.«
»Es gibt eine Konkurrenz um Einwohner und Arbeitsplätze«
Seither habe es »eine lange Phase des Einfamilienhausbaus« gegeben. In vielen dieser Häuser, die früher mehrköpfige Familien beherbergten, lebe inzwischen nur noch eine ältere Person. Dass dieser Wohnraum nicht erneut für Familien zur Verfügung gestellt werde, liege oft auch daran, dass es älteren Menschen nicht so leicht falle, sich um andere Wohnmöglichkeiten zu kümmern. »Und es lohnt sich für sie finanziell nicht«, benennt Ruther-Mehlis einen weiteren Grund, warum Rentner gern in ihren gewohnten vier Wänden wohnen bleiben.
Zudem gibt es immer mehr Singles, die – sei es nach Scheidung, Trennung oder ganz bewusst – allein in einem Haushalt lebten. »Fakt ist auch: Die Menschen werden immer älter«, sagt Ruther-Mehlis, das heißt, sie brauchen auch entsprechend länger ein Dach über dem Kopf.
Wohnungswünsche laufen heutzutage aber nicht mehr – wie noch in den 60er- und 70er-Jahren – zwangsläufig auf ein allein stehendes Haus hinaus: »Viele Menschen möchten gern möglichst zentral wohnen, aber trotzdem ihre Privatsphäre haben.« Städte und Gemeinden könnten das über die Bebauungsplanung steuern und zum Beispiel Baufenster so ausrichten, »dass auf wenig Fläche viel Privatheit« möglich wird. Grundsätzlich sollten die Kommunen eine aktivere Boden- und Wohnungsbaupolitik anstreben, rät Ruther-Mehlis. »Sie haben das Monopol, Bauland zu entwickeln, und können Art und Maß der baulichen Nutzung festlegen.« Zielführend sei es auch, dass eine Stadt oder eine Gemeinde die Fläche, auf der gebaut werden soll, vorher aufkaufe. »Das ist eine wesentliche Stellgröße«, betont er, »dann kann auch festgelegt werden, wie viel Fläche für sozialen Wohnungsbau bereitgestellt werden soll.« Ebenso wichtig sei es, dass eine Kommune sich das Vorkaufsrecht für absehbar frei werdende Flächen im Innenbereich sichere.
Der Professor würde sich darüber hinaus "mehr landesplanerische Lenkung" wünschen. Der Landesentwicklungsplan, in dem die planerischen Leitlinien festgelegt werden, sei seit 2002 nicht mehr erneuert worden, kritisiert er. Zudem sollten sich Regional- und Kommunalplanung "durchdringen", was aber nicht überall gegeben sei. »Es gibt eine Konkurrenz um Einwohner und Arbeitsplätze«, betont Ruther-Mehlis, weil die Einnahmen aus der Einkommens- und Gewerbesteuer für alle Gemeinden und Städte enorm wichtig seien. Dem könne zum Beispiel mit interkommunalen Gewerbegebieten entgegengewirkt werden. "Die Stadt Freiburg plant mit einer Nachbargemeinde sogar ein interkommunales Wohngebiet", erklärt er. Für derartige gemeinsame Bestrebungen könnten im Regionalplan die Voraussetzungen geschaffen werden.
»Stadtentwicklung ist immer mit widerstrebenden Interessen verbunden«, betont Ruther-Mehlis, weshalb eine sorgfältige Abwägung, auf fachlicher wie auch auf politischer Ebene, grundsätzlich geboten sei. (GEA)