PFULLINGEN. Das Größte war die Freiheit. Die Sekunden nach dem Aufwachen. Keine Aufgaben, die sich ins Bewusstsein schieben. Das Gefühl, nichts zu müssen, aber vieles zu können. Jeder Tag eine Möglichkeit. 15 Monate lang selbstbestimmt, im eigenen Rhythmus.
Als Ende 2021 zum letzten Mal der PC am Arbeitsplatz in der Pfullinger GEA-Redaktion herunterfuhr, stand Ungewisses bevor. Wohnung gekündigt, Auto und Habseligkeiten verkauft, One-Way-Ticket nach Mexiko gebucht. Routinen und Alltag sollten Vergangenheit, Weite und Neues Gegenwart werden.
DIE AUTORIN
Claudia Hailfinger, jahrelang Lokalredakteurin beim GEA, zunächst in Mössingen, dann in Pfullingen, hat im November 2021 ihren Stift gegen den Rucksack, ihr Zuhause gegen das Unterwegssein getauscht. Vor Kurzem ist sie von ihrer Weltreise zurückgekehrt und zieht nun Bilanz. (GEA)
Am Anfang war das holprig. In eine andere Zeit- und Klimazone geworfen, ging das große Organisieren los, das fester Bestandteil des Reiselebens bleiben sollte: Was gibt es zu sehen, was will ich sehen? Welche Routen machen Sinn, welche Wege bleiben unbegangen? Wo schlafen, wie hinkommen – am schnellsten, günstigsten, sichersten? Abwägen, entscheiden, offen bleiben. Ständiges Sich-Einfinden, Fremdsein, Unsicherheiten. Das Leben hatte Geschwindigkeit aufgenommen. Schritt zu halten, dauerte. Schließlich aber gewöhnten sich Körper und Geist ans Unterwegssein, waren bereit, aufzunehmen.
Kaum fassen lässt sich all das Gesehene, Erlebte, die Begegnungen in den 20 Ländern, die es letztlich geworden sind. Von Mittel- über Südamerika verlief die Tour, weiter nach Vorderasien, Zentralasien, Süd- und Südostasien. Wo's am schönsten war? Schwer zu sagen. Zu unterschiedlich und auf ihre Art besonders alle Länder. Aber Highlights, die gab's natürlich.
Der Vulkan Acatenango in Guatemala etwa. Hochgestiegen, über Nacht geblieben, Premiumblick auf den Nachbar-Vulkan Fuego: Alle 20 Minuten wackelt die Erde, Lavafontänen, Gesteinsflug; die türkisleuchtenden Gebirgsseen in den Anden Perus, Kondore über Canyons, Berge in Regenbogenfarben; die unwirklichen Szenerien in Boliviens »Salar de Uyuni«, der größten Salzpfanne der Welt: Flamingos in roten Seen, Lamas in der Wüste, trockengelegte Kakteeninseln; nachts bei Minusgraden in heißer Quelle: die Milchstraße am Himmel, die nackten Zehen auf Kies, das allmähliche Erwachen der Welt, rotes Leuchten, dichter Dampf.
Flucht vor dem Nashorn
Oder auch die Sommerweiden Kirgistans: Kinderlachen zwischen Yakherden, Schlaflager in Jurten, Frühstück bei Stutenmilch und Fladenbrot. Da waren die leuchtenden Kerzen und Augen am heiligen Ganges in Indien: andächtiges Gedränge, Gesänge, Blumenschiffchen im Wellengang. Und natürlich Nepal. Der Himalaya! Zwei Wochen langer Marsch um das 8 000er-Massiv des Annapurna. Das Gefühl von dünner Luft in den Lungen, die Kälte in der Nacht, in Gold getauchte Gipfel.

Weit getragen haben die Füße, schwer die Schultern. Wie gut es tat, ein weiches, sauberes Bett zu finden. Und die Freundlichkeit, die überall zu Hause ist – in jeder Kultur, jeder Religion. Die Erkenntnis: Wer lächelt, kriegt (meist) ein Lächeln zurück, wer um Hilfe fragt, dem wird geholfen. Und: Ohne das eine, ist das andere nichts. Nur wer friert, spürt die Wärme tief, Entbehrungen lassen Komfort genießen, wer Angst hat, fühlt Erleichterung.
Viel Grund zum Fürchten gab's auf der langen Reise zwar nicht. Und doch: Das Nashorn, das in Südnepal erst vor uns stand, plötzlich hinter uns rannte, ließ den Puls hochschnellen. Ebenso der Sturz in das Geysir-Loch, an dessen Grund brodelndes Wasser wartete – es war zum Glück recht eng. Blank lagen die Nerven in dem maroden Bus im Gebirge: Schaukelpartie auf gehwegbreiter Piste – links der Abgrund, rechts der Erdrutsch.
Überhaupt: Club-Urlaub war das Ganze nicht. Mit Schnarchern im Mehrbettzimmer, mit rebellierendem Magen im Nachtbus, mit Fieber irgendwo in Nordindien; kalte Duschen, Mäuse unterm Bett, wochenlang Bohnen mit Reis; bei 40 Grad mit 18 Kilo auf dem Rücken auf Unterkunftssuche, der aufgeschlitzte Rucksack, Schüsse auf der Demo.
Das Tolle am Reisen ist, dass das, was zuvor ein vages Bild im Kopf war, plötzlich Gestalt annimmt. Allerdings heißt Konkretisierung nicht selten auch Desillusionierung. Neu-Delhi – Exotik, pralles Leben, Spiritualität? Ja. Aber auch das: ein undurchdringbares Knäuel an Menschen, Tieren, Gefährten. Lärm, Smog, Müll. Tote Ratten auf dem Weg, Pissrinnen an der Hauswand, Mütter mit Babys im Schlamm. Anstrengend war es, das zu sehen. Aber wichtig. Weil es Teil der Welt ist. Weil es demütig macht. Und, weil es das eigene Leben in anderem Licht zeigt. Deutlich wird die eigene Prägung, werden die eigenen Grenzen. Oft muss man sein Verwöhntsein erkennen, manchmal die Borniertheit. Niemand lebt so komfortabel und gut versorgt wie wir.
Und doch sind all die Reisenden unterwegs, Menschen, die suchen, die finden, die raus, manchmal nicht zurückmöchten. Sie wollen etwas sehen, erleben und die Freiheit spüren, mit der wir unsere Sicherheit bezahlen. Apropos Kosten – es kostete nicht die Welt, die Welt zu sehen. Ein einfacher neuer Polo ist teurer.
Jeden dritten Tag woanders
Dennoch: Die Ersparnisse sind irgendwann aufgebraucht. Und die Kräfte auch. Nach 456 Tagen unterwegs stellt sich Erschöpfung ein, Sättigung. Über 62 000 Kilometer zurückgelegt, sagt die Reise-App. Im Schnitt fast jeden dritten Tag woanders geschlafen. Keinen Nerv mehr, Stunde um Stunde in Zügen, Bussen, Tuk-Tuks zu verbringen, kein Platz mehr für neue Eindrücke. Also wird der Rucksack ein letztes Mal gepackt. Zurück in die Heimat. Übervoll, glücklich und dankbar.
Die App hat noch nicht genug: erinnert, wie viele Tage schon reisefrei sind, erklärt, dass die Tour nur durch 12 Prozent aller Länder führte, fordert auf, eine neue Reise hinzuzufügen. Ich schalte ab. Ein fester Wohnsitz, ein bisschen Struktur und Alltag – jetzt tut es gut. Zurück in vertrauter, kleiner Welt. Doch meine, die ist größer geworden. (GEA)