Unschuldig verhaftet
In seiner 2006 veröffentlichten Dokumentation über die Geschwister Schwille kam der Lokalhistoriker Andreas Hauschild noch zu dem Ergebnis, dass Frieda Schwille aufgrund der »Fülle von Indizien« der Schlotterbeck-Gruppe zuzurechnen sei. Inzwischen hat Hauschild weitere Unterlagen ausgewertet und sein erstes Urteil revidiert: »Frieda Schwille hatte mit der Widerstands-Gruppe Schlotterbeck direkt nichts zu tun«, sagt er heute. Sie sei eher eine Randfigur des damaligen Geschehens und völlig schuldlos in die Fänge der Gestapo geraten. In Pfullingen erinnert ein Eintrag im Kirchenbuch an dieses Opfer des Nationalsozialismus. Hinter dem Namen von Frieda Schwille ist vermerkt: »Vom Nat. Soz. hingerichtet«.Am 15. Juni 1944 war Frieda Schwille, Mitglied einer biblischen Gemeinde, Bäuerin, Leiterin der Milchsammelstelle im E-Werk, an ihrem Arbeitsplatz in der Gönninger Straße – wo heute das Friedrich-Schiller-Gymnasium steht – von der Gestapo verhaftet worden.
Was war vorausgegangen? Der britische Historiker Donal O’Sullivan hat in seinem Buch »Dealing with the Devil« (Pakt mit dem Teufel) über die englisch-sowjetische Zusammenarbeit der Nachrichtendienste im Zweiten Weltkrieg unter anderem die Landung zweier Fallschirmagenten Anfang 1944 auf der Schwäbischen Alb geschildert, getarnt als »Operation Eiger«. Die Geheimagenten Eugen Nesper und Hermann Kramer sollten im sowjetischen Auftrag in Stuttgart eine Widerstandszelle unterstützen und militärische Informationen nach Moskau funken.
In Dachau hingerichtet
Kramer wurde sofort gefangen und im KZ Sachsenhausen ermordet; Nesper wurde ebenfalls kurze Zeit später festgenommen und fungierte daraufhin als Gestapospitzel. Er verriet alle, die ihn für einen antifaschistischen Widerstandskämpfer hielten, an die Nazi-Schergen. Als sein Verrat aufflog, setzte er sich in die Schweiz ab und erschoss dabei einen Grenzbeamten.Zehn Personen wurden am 30. November 1944 wegen angeblicher »Vorbereitung zum Hochverrat« in Dachau hingerichtet, neben Gotthilf und Maria Schlotterbeck, Gertrud Lutz, Else Himmelheber, Erich Heinser, Emil Gärttner, Sophie Klenk, Emmy Seitz, Hermann Seitz auch die Pfullingerin Frieda Schwille. In den mittlerweile zugänglichen Spruchkammer-Akten im Staatsarchiv lassen sich die damaligen Ereignisse anhand der Aussagen der 1947 verhörten Stuttgarter Ex-Gestapobeamten rekonstruieren. Otto Kessler, früherer Kriminalsekretär, berichtete über die »bestechende Abfassung und ausführliche Genauigkeit« der Spitzelberichte: »In erster Linie zahlreiche Berichte des Nesper über Zusammenkünfte mit den Angehörigen der Familie Schlotterbeck und einer gewissen Frieda Schwille aus Pfullingen ...«
Frieda Schwille war – nach Kesslers Angaben – mehrere Male mit Nesper zusammengetroffen, hatte ihn in der Klosterstraße 51 beherbergt und verköstigt und »ihm verschiedene Telegramme an ihren Bruder Fritz Schwille in Russland, die Nesper illegal nach Russland vermitteln sollte«, mitgegeben. Friedrich Schwille hatte während des Krieges aus Glaubensgründen den Kriegsdienst verweigert, war zum Tode verurteilt, dann aber zur Frontbewährung begnadigt worden. In russischer Gefangenschaft ist er Nesper begegnet.
Der ehemalige SS-Untersturmführer Karl Maile von der Nachrichtenabteilung, damals engster Vertrauter des Gestapochefs Friedrich Mußgay, berichtete 1947: »In der Nähe von Reutlingen in einer Wirtschaft wurde von den genannten Personen die Funkverbindung mit Moskau aufgenommen.« Unter Aufsicht der Gestapo erfolgte dies möglicherweise in der Nachbarschaft der Schwilleschen Wohnung.
Exekutionsbefehl per Schnellbrief
Auch Frieda Schwille sei wie die andern neun am 30. November vor 70 Jahren Hingerichteten zur Festnahme »mit einem roten Strich besonders gekennzeichnet« worden. Der ehemalige Gestapobeamte Ernst Zerrer äußerte sich nach 1945 über die Festgenommenen: Sie hätten sich seines Wissens »in gar keiner Weise aktiv betätigt, sondern wurden nur von Nesper im Auftrag der Gestapo (Hagenlocher und Maile) aufgesucht.« Sie hätten darüber der Polizei gegenüber keine Anzeige gemacht, »obwohl diese größtenteils wusste, das Nesper als russischer Fallschirmagent nach Deutschland kam.« Schließlich wurden bei der Geheimen Staatspolizei-Leitstelle im früheren Stuttgarter »Hotel Silber« die Berichte für das Berliner Reichssicherheitshauptamt (RSHA) angefertigt und »Sonderbehandlung«, also außergerichtliche Hinrichtung, beantragt.In einem Schnellbrief wurde vom Himmlerschen RSHA die Exekution angeordnet. Der Vorwurf lautete »Vorbereitung zum Hochverrat«. Dazu sagte Zerrer: »Dies war eine Lüge, denn der Tatbestand eines Hochverrats konnte den Leuten nicht nachgewiesen werden.« Der gesamte Vorgang sei als »Geheime Reichssache« behandelt worden. Zerrer berichtete weiter: »Hagenlocher und Kessler zusammen haben es fertig gebracht, sämtliche Personen, mit denen Nesper zusammenkam, erschießen zu lassen. Wie ich erfahren habe, wurden die Leute durch Kessler und noch einigen SS-Leuten nach Dachau gebracht und dort erschossen.«
Schlotterbeck gelang die Flucht
Alfred Hagenlocher, der die Todes-Dokumente an die Standesämter unterzeichnete, war von 1958 bis 1978 Präsident der Hans-Thoma-Gesellschaft in Reutlingen. Zur Nachkriegsgeschichte, so heißt es in dem jüngst erschienenen Sammelband »Geheime Staatspolizei in Württemberg und Hohenzollern«, sei zu vermerken, dass »keine justizielle Aufarbeitung der Tötung der Gruppenmitglieder stattgefunden« habe, »die Beamte der Stapoleitstelle beim RSHA beantragt hatten«.Nur dem in Reutlingen geborenen Friedrich Schlotterbeck (1909 bis 1979) gelang die Flucht. Er verfasste später seine »Erinnerungen eines Arbeiters« mit dem Titel »Je dunkler die Nacht, desto heller die Sterne«. – »Warum mußten sie alle sterben?« Weil sie es gewagt hatten, so Schlotterbeck 1945, »den Verderbern unseres Volkes zu trotzen«. (GEA)