METZINGEN. Ein Kind fällt im Turntraining hin. Ein Übungsleiter nimmt es instinktiv in den Arm, möchte es trösten. Geht das schon zu weit? Ist jede Berührung möglicherweise übergriffig, sexualisierte Gewalt? Oder ist sie geradezu notwendig, weil ein Bedürfnis des Gestürzten? Es wird auf den Willen des Kindes ankommen: Möchte es gehalten werden? Oder alleine wieder auf die Beine kommen? Der Übungsleiter weiß es nur, wenn das Kind sich traut, zu sagen, was es will und was nicht.
Um Situationen wie diese geht es in Schutzkonzepten gegen sexualisierte Gewalt. Wo liegen die Grenzen der Berührung oder auch der Worte oder Blicke? An wen können sich Betroffene wenden, wenn sie die Grenzen überschritten sehen? In welcher Situation handelt welches Vereinsmitglied wie? Die Stadt Metzingen hat im Herbst 2023 Vereinen angeboten, sie bei der Aufstellung von Schutzkonzepten - in denen auch Schutzbeauftragte benannt werden - zu unterstützen. Dabei hat die Stadt unter Federführung von Steffen Uebele vom Fachbereich Jugend mit dem Verein Wirbelwind aus Reutlingen kooperiert, der gegen sexuellen Missbrauch ins Feld zieht.
»In Vereinen wirken viele ehrenamtlich Engagierte mit. Das befeuert sexualisierte Gewalt, weil die eine Hand nicht weiß, was die andere tut «
Knapp eineinhalb Jahre später haben Vertreter von Stadt und Vereinen im Metzinger Familienzentrum am Montag eine Zwischenbilanz gezogen. Zehn Vereine haben bisher Konzepte, darunter der FC Neuhausen 80, die Musikschule, der Turnerbund oder der Deutsche Amateur-Radio-Club (DARC). Damit »wird eine deutlich vierstellige Zahl von Kindern und Jugendlichen erreicht«, macht der Erste Bürgermeister Patrick Hubertz deutlich. In der Kelternstadt und ihren Ortsteilen gibt es rund 150 Vereine, darunter besonders mitgliederstarke wie die TuS Metzingen, die Albvereins-Ortsgruppe oder der TV Neuhausen.
In Vereinen wirken viele ehrenamtlich Engagierte mit. Das befeuert sexualisierte Gewalt, weil die eine Hand nicht weiß, was die andere tut. Das kann undurchsichtig werden. »Es befeuert sexualisierte Gewalt, wenn die eine Hand nicht weiß, was die andere tut«, sagt Dorothee Himpele vom Verein Wirbelwind. Setzen die Vereine durch Schutzkonzepte und -Beauftragte Signale nach außen, »suchen sich Täterinnen oder Täter den Nachbarverein ohne Konzept.« Heißt im Umkehrschluss: Wenn möglichst viele Vereine Flagge zeigen, wird das Risiko körperlicher und verbaler Übergriffe geringer.
Je nach Verein sieht das Schutzkonzept unterschiedlich aus. Mal geht es darum, Zuflucht-Ecken zu schaffen, dann wieder Licht in Räume zu bringen. Oder darum, »Kindern spielerisch aufzuzeigen, dass es Personen gibt, an die sie sich wenden können«, wie es Jonathan Brodbeck vom CVJM beschreibt. »Gut, wenn Eltern das Gefühl haben, dass ihre Kinder bei uns gut aufgehoben sind«, hebt Sylvester Rademaker vom DARC hervor. Die Schutzkonzepte dienen auch den Vereinen selbst, die damit als integer angesehen werden können. Nicht von ungefähr heißt das Projektmotto »Gemeinsam handeln - Vereine schützen«.
Äußeren Anlass dazu gab es in der Kelternstadt seit vielen Jahren nicht mehr - oder er wurde nicht bekannt. »Die Dunkelziffer ist sehr hoch«, sagt Dorothee Himpele: Wer Opfer sexualisierter Gewalt wurde, ist oft scham- oder schuldbehaftet und schweigt. Bürgermeister Hubertz, der auch Übungsleiter in einem Sportverein war, ist durch einen Fall mit einem Jugendtrainer in Reutlingen auf das Thema aufmerksam geworden. Der ursprüngliche Anlass für die Schutzkonzepte liegt laut Himpele aber in den Missbrauchsfällen innerhalb der katholischen Kirche, die ab 2010 bekannt wurden.
»Mit den Eltern ist ganz klar vereinbart, wie Lehrkräfte mit den Kindern umgehen dürfen «
Metzingens Musikschulleiter Bruno Seitz blickt 35 Jahre zurück. Damals, lange vor seiner Amtszeit, gab es einen Vorfall mit einem Lehrer. Das hat Seitz angetrieben, auch an seiner Einrichtung, die allein 1.700 Kinder und Jugendliche zählt, ein Schutzkonzept gegen sexuellen Missbrauch aufzustellen. »Mit den Eltern ist ganz klar vereinbart, wie die Lehrkräfte mit den Kindern umgehen dürfen.« Beim Prüfen der Bauchspannung, die für Blasinstrumentalisten unerlässlich ist, legt der Lehrer oder die Lehrerin schon mal die Hände um das Zwerchfell der Spielenden.
Sylvester Rademaker vom DARC will Berührung nicht verteufeln, sieht »die Gefahr, dass es in die Gegenrichtung ausschlägt. Trösten sollte man das Kind noch dürfen«. Wenn es das denn möchte. Eine Vorverurteilung von Menschen, die sich keiner bösen Absicht bewusst sind, will auch Bürgermeister und Übungsleiter Hubertz nicht. »Wichtig ist, objektiv ranzugehen und sachlich aufzuarbeiten.« Dabei können die Schutzkonzepte helfen, wenn sie konkret formuliert sind.
»Schon die Verschriftlichung war wichtig«
In den Metzinger Vereinen geht es jetzt um Wissensverbreitung: darum, ihren neuen Verhaltenskodex bei den Mitgliedern bekanntzumachen. »Schon die Verschriftlichung war wichtig«, sagt Anke Hallenjos vom Kletterzentrum h 3. Die Stadt wird über den Verein Wirbelwind regelmäßige Schulungen für Trainer und Übungsleiter anbieten. Hubertz, Uebele und Himpele geht es weiter um Sensibilisierung. Und um Prävention. »Künftig gibt es nach den Vereinsförderrichtlinien nur noch Zuschüsse, wenn die Vereine auch Schutzkonzepte haben«, kündigt der Erste Bürgermeister an.
Auch könnte es eine zweite Runde des Projekts »Gemeinsam handeln - Vereine schützen« geben. Interessierte Vereine können sich bis Ende März per E-Mail bei Steffen Uebele von der Stadtverwaltung Metzingen melden. (GEA)