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Wie ein Hilfsteam aus dem Ermstal den Ukraine-Krieg erlebt hat

Die Hilfsorganisation »Ermstal hilft« war zusammen mit der Grünen-Bundestagsabgeordneten Beate Müller-Gemmeke wieder im ukranischen Kriegsgebiet. Eine Reise in Abgründe.

Vor zerstörten russischen Panzern in Mykolajiw: (von links) Holger Weiblen, Jochen Kleih, Beate Müller- Gemmeke, Martin Salzer,
Vor zerstörten russischen Panzern in Mykolajiw: (von links) Holger Weiblen, Jochen Kleih, Beate Müller- Gemmeke, Martin Salzer, Alex Subkow, Übersetzerin Natalija Petrenko und Alex Spatar. Foto: Ukrainer hilft
Vor zerstörten russischen Panzern in Mykolajiw: (von links) Holger Weiblen, Jochen Kleih, Beate Müller- Gemmeke, Martin Salzer, Alex Subkow, Übersetzerin Natalija Petrenko und Alex Spatar.
Foto: Ukrainer hilft

DETTINGEN/ODESSA. Die Sicherheitslage hat sich verschlechtert. Das hat Beate Müller-Gemmeke, Bundestagsabgeordnete aus dem Wahlkreis Reutlingen, spätestens in dem Moment zu spüren bekommen, als sie den brachialsten Knall ihres Lebens hörte. Luftalarm in Odessa, mal wieder. Als die kriegserprobten, abgebrühten Menschen plötzlich mit Rennen anfangen, auf der Suche nach dem nächsten Bunker, begreift sie, dass es jetzt ernst ist. Dann dieser irrsinnige Knall. Die ukrainische Flugabwehr hat eine russische Rakete überm Meer abgeschossen. Gerade mal zwei Kilometer entfernt. Die Druckwelle war so stark, dass 300 Häusern unbewohnbar wurden, weil die Fenster herausgesprengt wurden. »In diesem Moment hatte ich das erste Mal Angst«, sagt Beate Müller-Gemmeke, »ich habe mich wahnsinnig ausgeliefert gefühlt.«

»Die Ukraine braucht Unterstützung – nicht nur humanitäre, sondern auch militärische«

Die anderen: Das sind die Köpfe von »Ermstal hilft« Simon Nowotni und Martin Salzer, an ihrer Seite Vorstandsmitglied Holger Weiblen und der Dettinger Zimmer-Meister Jochen Kleih (Kleih Holzbau), der die Gruppe auch zum zweiten Mal begleitet und der schon einen alten Kleintransporter an die Hilfsorganisation gespendet hat. Mit im Boot der Kirchheim Oberbürgermeister Dr. Pascal Bader, der mit seiner Stadt eine Solidaritätspartnerschaft mit der Gemeinde Sarata eingehen will. Beate Müller-Gemmeke hat für »Ermstal hilft« schon ein paar Mal mit den Verwaltungs-Chefs von Dettingen, Metzingen und Bad Urach geredet. Die Hilfsorganisation hofft, dass die Ermstal-Gemeinden bald dem Kirchheimer Beispiel folgen. »Ich bin zuversichtlich«, sagt Martin Salzer.

»Ermstal hilft« hat auf einem zerschossenen russischen Panzer eine Visitenkarte hinterlassen. Im Hintergrund die von einem Raket
»Ermstal hilft« hat auf einem zerschossenen russischen Panzer eine Visitenkarte hinterlassen. Im Hintergrund die von einem Raketenangriff zerstörte Gebietsverwaltung. Foto: Ermstal hilft
»Ermstal hilft« hat auf einem zerschossenen russischen Panzer eine Visitenkarte hinterlassen. Im Hintergrund die von einem Raketenangriff zerstörte Gebietsverwaltung.
Foto: Ermstal hilft

Als Bundestagsabgeordnete wird Beate Müller-Gemmeke bei solchen Reisen automatisch von Beamten des Bundeskriminalamts begleitet. Das BKA sagte einen Tag vor dem Abflug ab und riet ihr dringend, zu Hause zu bleiben. Kurz zuvor das Attentat in Moskau, die Russen waren noch nervöser. Vor einer Rakete kann auch ein bewaffneter BKA-ler nicht schützen, die Beamten haben aber viel Erfahrung darin, Menschen in Sicherheit zu bringen, wenn es Metall regnet und schauen sich laufend nach Fluchtwegen um. Dieses Mal begnügten sich die Besucher aus dem Ermstal mit Schutzwesten, die ihnen vor Ort zur Verfügung gestellt wurden. Besser als nichts. »Man fühlt sich tatsächlich ein bisschen sicherer damit«, sagt Martin Salzer.

Ein Luftalarm nach dem anderen: So sieht das Smartphone aus, wenn man wie Ermstal hilft in einem Kriegsgebiet ist.
Ein Luftalarm nach dem anderen: So sieht das Smartphone aus, wenn man wie Ermstal hilft in einem Kriegsgebiet ist. Foto: Ermstal hilft
Ein Luftalarm nach dem anderen: So sieht das Smartphone aus, wenn man wie Ermstal hilft in einem Kriegsgebiet ist.
Foto: Ermstal hilft

Seit dem letztem Besuch im November haben sich die russischen Angriffe deutlich verstärkt. Die Ermstal-hilft-Gruppe war bei diesem Besuch viel, viel häufiger im Bunker als letztes Mal. In fünf von sechs Nächten und tagsüber auch noch fünf Mal. Ein Bunker ist die beste Wahl, ein Keller tut’s zur Not auch. Wenn’s auch das nicht gibt, stellen oder legen sich die Menschen im Gebäude zwischen zwei Wände. Der einzige Schutz gegen die Druckwelle, die Glassplitter zu Geschossen macht. Im Bunker redet und lacht man übertrieben viel oder spielt mit seinem Handy. Hauptsache Ablenkung. »Sonst ist das nicht auszuhalten«, sagt Müller-Gemmeke. Die Bundestagsabgeordnete aus Pliezhausen schaut auch jetzt noch laufend auf die App, die in der Ukraine so etwas wie eine Lebensversicherung war. Und sie hat die Seite (https://liveuamap.com/de) im Blick, die zeigt, was gerade wo passiert ist. »Letzte Nacht 99 Drohnen und Raketen auf die Ukraine«, sagt sie, »84 abgeschossen.« Die anderen 15? Sie schaut düster und flucht.

»Die Russen greifen nicht nur militärische Ziele an, sondern auch die kritische Infrastruktur«, sagt Martin Salzer. Mit der Folge, dass die Wasserversorgung in der Hafenstadt Mykolajiw eine Katastrophe ist. 400.000 Menschen haben kein sauberes Trinkwasser, weil die Infrastruktur gezielt zerstört wurde. Das trotz Aufbereitung salzhaltige Wasser zerfrisst die Rohrleitungen, was zu zahlreichen Rohrbrüchen und Verkeimungen führt. »Und es gibt unglaublich viele Angriffe auf Bildungseinrichtungen – vom Kindergarten bis zur Uni«, sagt Salzer, »also auf die Zukunft der Ukraine.«

Was tun bei Luftalarm? Ein Bunker ist die beste Wahl, ein Keller tut’s zur Not auch. Wenn’s auch das nicht gibt, stellen oder le
Was tun bei Luftalarm? Ein Bunker ist die beste Wahl, ein Keller tut’s zur Not auch. Wenn’s auch das nicht gibt, stellen oder legen sich die Menschen im Gebäude zwischen zwei Wände. Der einzige Schutz gegen die Druckwelle, die Glassplitter zu Geschossen macht. Foto: Ermstal hilft
Was tun bei Luftalarm? Ein Bunker ist die beste Wahl, ein Keller tut’s zur Not auch. Wenn’s auch das nicht gibt, stellen oder legen sich die Menschen im Gebäude zwischen zwei Wände. Der einzige Schutz gegen die Druckwelle, die Glassplitter zu Geschossen macht.
Foto: Ermstal hilft

Erhellend die Sätze von Bürgermeister Oleksandr Sjenkewytsch: Er wolle kein deutsches Steuergeld, sagt er den Ermstälern. »Nehmt russisches Geld«, also die eingefrorenen Vermögen der Oligarchen, »das würde reichen.« Der Verwaltungs-Chef weiß natürlich, dass das nicht so einfach ist, es gibt schließlich das Bankenrecht. Aber eben auch so etwas wie das Menschenrecht. Diesen Gedanken hat Ermstal hilft mitgenommen. Und den ernüchternd brutalen Satz: »Es dauert acht Monate, einen Panzer zu bauen. Drei Monate für eine Rakete. Und achtzehn Jahre für einen Soldaten.«

An einem Mahnmal für gefallene Soldaten – alle um die 30 Jahre alt – müssen die Besucher schlucken. Allein deshalb, weil das Mahnmal erweitert wurde. Auf den weißen Feldern ist jetzt wieder Platz für weitere Namen.

Die Russen greifen in der Ukraine schon lange nicht mehr nur militärische Ziele und Infrastruktureinrichtungen an, sondern auch
Die Russen greifen in der Ukraine schon lange nicht mehr nur militärische Ziele und Infrastruktureinrichtungen an, sondern auch verstärkt Bildungseinrichtungen - vom Kindergarten bis zur Universität. Das Bild zeigt Beate Müller-Gemmeke vor einer zerstörten Schule. Foto: Ermstal hilft
Die Russen greifen in der Ukraine schon lange nicht mehr nur militärische Ziele und Infrastruktureinrichtungen an, sondern auch verstärkt Bildungseinrichtungen - vom Kindergarten bis zur Universität. Das Bild zeigt Beate Müller-Gemmeke vor einer zerstörten Schule.
Foto: Ermstal hilft

Beim letzten Besuch haben die meisten Ukrainer noch vom Sieg gesprochen. »Das ist gerade nicht mehr so deutlich zu hören«, sagt Martin Salzer, »es gibt gewisse Ermüdungserscheinungen. Nicht nur wegen der vielen Verletzten und Toten. Die Menschen sind wegen der zögerlichen Waffenlieferungen enttäuscht.« Und maßlos frustriert, wenn es einfach zu wenig Munition gibt – wenn die Soldaten überlegen müssen, auf welche Drohne oder welche Rakete sie schießen sollen.

Es muss gar kein direkter Raketentreffer sein, oft reicht schon die Druckwelle, um für große Zerstörung zu sorgen. Das Bild zeig
Es muss gar kein direkter Raketentreffer sein, oft reicht schon die Druckwelle, um für große Zerstörung zu sorgen. Das Bild zeigt die Ermstal-hilft-Gruppe vor einem kaputten Feuerwehrauto mit dem Kirchheimer OB Dr. Pascal Bader (rechts), der mit seiner Stadt eine Solidaritätspartnerschaft mit der Gemeinde Srata eingehen will. Die Ermstal-Gemeinden Dettingen, Metzingen und Bad Urach sollen folgen. Foto: Ermstal hilft
Es muss gar kein direkter Raketentreffer sein, oft reicht schon die Druckwelle, um für große Zerstörung zu sorgen. Das Bild zeigt die Ermstal-hilft-Gruppe vor einem kaputten Feuerwehrauto mit dem Kirchheimer OB Dr. Pascal Bader (rechts), der mit seiner Stadt eine Solidaritätspartnerschaft mit der Gemeinde Srata eingehen will. Die Ermstal-Gemeinden Dettingen, Metzingen und Bad Urach sollen folgen.
Foto: Ermstal hilft

»Die Ukraine braucht Unterstützung«, sagt Beate Müller-Gemmeke immer wieder, »nicht nur humanitäre, sondern auch militärische. Wenn sie diese Unterstützung nicht bekommen, mache ich mir Sorge, das es den nächsten Besuch von Ermstal hilft im Herbst vielleicht nicht mehr geben könnte.« Wenn sie auf www.liveuamap.com sieht, wo’s wieder geknallt hat, macht sie sich große Sorgen um Alex und Dima, von der örtlichen Hilfsorganisation Stribog, die die Güter von Ermstal hilft noch näher an die Front bringen. Nach dem zweiten Aufenthalt in der Ukraine sagt sie: »Es gibt keine Alternative zum Gewinnen.«

»›Ermstal hilft‹ ist eine kleine Hilfsorganisation, die Großartiges leistet«

Ihr Blick geht auch auf Twitter, wo die in Russland geborene US-Journalistin Zarina Zabrisky ebenso von Kriegs-Gräueln berichtet wie vom unbändigen Lebenswillen des ukrainischen Volks und Ausbrüchen der verzweifelten Lebensfreude in Atempausen des Krieges. Zabrisky wurde auf »Ermstal hilft« und »Stribog« aufmerksam, nachdem sie gehört hatte, dass die Ermstäler Babyinkubatoren nach Cherson geliefert hatten.

Was Zabrisky von Augenzeugen weitergibt, bestärkt die Delegation aus dem Ermstal, hier weiter für Unterstützung zu kämpfen. Für Spenden natürlich – Geld wird immer gebraucht –, und für Material. »Dringend werden Schulbusse benötigt«, sagt Martin Salzer, »da Kinder aus den Dörfern an Schulen gefahren werden müssen, die über ausreichend Bunker verfügen.« Auch Baumaschinen und Rettungsfahrzeuge werden gesucht. »Deshalb der Aufruf an dieser Stelle: Wer über solche Fahrzeuge oder Geräte verfügt, darf sich gerne bei Ermstal hilft melden!« Zusammen mit Simon Nowotni wird er Mittel und Wege finden, das Material ins Kriegsgebiet zu schaffen. Beate Müller-Gemmeke engagiert sich an der Seite der Hilfsorganisation weiter: »›Ermstal hilft‹ ist eine kleine Hilfsorganisation, die Großartiges leistet.« (GEA)

https://www.ermstal-hilft.de/