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Wie eine Frau aus der Region ihre Essstörungen überwunden hat

Steffi Faigle aus Neckartenzlingen hat nach jahrzehntelangen Essstörungen ins Gleichgewicht gefunden und sich von Zwängen befreit. Im Gespräch mit dem GEA schildert die 44-Jährige ihren Lebensweg und gibt ähnlich betroffenen Frauen Rat.

»In sechs Monaten waren 15 Kilo weg - ohne aufs Essen zu achten«: Steffi Faigle hat  ihr Gleichgewicht gefunden.
»In sechs Monaten waren 15 Kilo weg - ohne aufs Essen zu achten«: Steffi Faigle hat ihr Gleichgewicht gefunden. Foto: Markus Pfisterer
»In sechs Monaten waren 15 Kilo weg - ohne aufs Essen zu achten«: Steffi Faigle hat ihr Gleichgewicht gefunden.
Foto: Markus Pfisterer

METZINGEN/NECKARTENZLINGEN. Jetzt geht der Zitronenkeks wieder ganz entspannt in den Mund. Mit breitem Lächeln beißt Steffi Faigle auf dem Metzinger Kelternplatz zu. »Ich habe keine Waage mehr daheim«, sagt die heute 44-Jährige. Jahrzehntelang war das anders: Die Waage dominierte ihr Leben. Und strikte »Ess mehr«- oder »Ess net so viel«-Gebote ihrer Mutter. Schlankheitsideale für Mädchen. Auf dünn getrimmte, bearbeitete Bilder aus sogenannten Sozialen Netzwerken, die der Maßstab für viele Mädchen und Frauen sind. FdH-Diäten, die nichts geholfen haben.

Geholfen haben der Neckartenzlingerin schließlich andere Gedanken über sich selbst. Selbstbewusst ist sie geworden. Hat sich von scheinbaren oder wirklichen äußeren Zwängen freigemacht und ist ins Gleichgewicht gekommen. Ideale 59 Kilo hat die Waage beim Hausarzt-Check für die 1,65 Meter große Frau angezeigt. »Die Wertschätzung sich selbst gegenüber ist so wichtig«, macht sie im Gespräch mit dem GEA als Gast am Kelternplatz deutlich. Sie möchte ähnlich betroffenen Frauen Mut machen. In Zeitungen genauso wie in ihrem Buch »Kalorien können mich mal.«

»Ich war eine schlechte Esserin. Da haben sie es in mich reingestopft«

Steffi Faigle hat jahrzehntelange Essstörungen hinter sich. Hat körperlich und seelisch heftige Schmerzen gelitten und konnte doch lange nicht raus aus der Achterbahn zwischen (Fr)Essen und Hungern. Auf dem Land bei Ludwigsburg aufgewachsen, schildert sie sich als einziges pummeliges Kind in ihren ersten Grundschulklassen. »Über das Sprungbrett auf den Kasten bin ich nicht gekommen.« Und: » Wenn andere eine Person als Hilfestellung beim Turnen hatten, waren es bei mir drei.«

Mitschüler/innen haben sie gehänselt. »Wer nicht abnimmt, gehört nicht dazu.« Sie bekam das Bild vermittelt, »egal, was ich mache, es ist immer falsch. Ich bin nicht richtig.« Nicht nur in der Schule, sondern auch zu Hause ging es hart zu. »Ich war eine schlechte Esserin. Da haben sie es in mich reingestopft.« Dabei hatten schon Faigles Mutter und Großmutter Pfunde zu viel auf den Rippen, gemessen am Durchschnitt, den die Gesellschaft so oft für maßgeblich hält.

»Ich wollte ums Verrecken die Levis 501 anziehen«

Am »Riesengymnasium« in Vaihingen/Enz war der Zwang ein ganz anderer als daheim: Runterhungern! »Es gab viel mehr Vergleichsmöglichkeiten«, blickt sie zurück. Mitschülerinnen, die die Levis 501 tragen konnten, die Steffi Faigle als Elfjährige auch so gerne angehabt hätte. »Ich wollte sie ums Verrecken anziehen.« Sie hat den Ehrgeiz und den Perfektionismus entwickelt, es zu schaffen. Hat alle Süßis weggelassen. Die Pfunde purzelten schnell. »Auf einmal war ich beliebt.«

Doch ein Jahr später ging es yoyoartig wieder hoch. »Schokolade schmeckt einfach gut.« Die Kilos kehrten zurück. Steffi Faigle zog erneut die Notbremse, aß nur »Mäusehäppchen. Man fühlt sich furchtbar«. Sie kam auf die Idee, Wattebäusche zu essen, getränkt mit Wasser, um den Magen irgendwie zu füllen, nur nicht mit Fett und Kalorien.

Als Kind war Steffi Faigle »moppelig« und wurde gehänselt.
Als Kind war Steffi Faigle »moppelig« und wurde gehänselt. Foto: Privat
Als Kind war Steffi Faigle »moppelig« und wurde gehänselt.
Foto: Privat

Ihr Gewicht kippte auf 45 Kilo ab. »Ich stand 24 Stunden unter Beobachtung meiner Mutter.« Ihre Konzentration litt. Die schulischen Leistungen ließen nach. Sie hatte keine Periode. Die erste kam mit 35. »Bei 30 Grad draußen habe ich einen Wollpulli angehabt.« Fehlt die Energie aus der Ernährung, wird der Kreislauf schwach. »Du bist krank«, sagte ein Therapeut später.

So ging es nicht weiter. Nach und nach führte Steffi Faigle ein Doppelleben. Nahm tagsüber wenig zu sich, stopfte nachts Kekse, Schokolade und Fertigkuchen en masse in sich hinein - »alles, was man sich sonst verbietet« - um es kurz darauf wieder zu erbrechen. Mit aggressivem Desinfektionsspray versuchte sie, den Gestank aus der Toilette zu vertreiben. »Das Schlimmste war der Verpackungsmüll.« Er kam in den Bettkasten, den Blicken der Mutter entzogen.

»Während des BA-Studiums hatte ich keine Zeit mehr zum Kotzen«

Trotz der körperlichen und seelischen Torturen machte Steffi Faigle das Abi. Es war unter diesen Umständen »furchtbar schlecht«. Und doch die Eintrittskarte in die Leistungsgesellschaft. »Ich wollte einen Beruf.« An der BA Mannheim hat sie in einem Dualen Studium Betriebswirtschaft absolviert, parallel in einer Spedition gearbeitet. »Ich hatte keine Zeit mehr zum Kotzen.« Seelisch zäh zeigte sie sich. Mit dem »mit elf entwickelten Perfektionismus« hat sie versucht, auf einen anderen Stand zu kommen.

Dazu gehörte, dass sie zum ersten Beruf einen zweiten lernte: den der Ernährungsberaterin. Kleidergrößen blieben bedeutend in Faigles Leben, Süßigkeiten allerdings auch. »Der Hosenanzug in 36, den ich im Frühjahr gekauft hatte, passte zur Weihnachtsfeier nicht mehr.« Sie beschreibt sich als junge Berufstätige als Workaholic - aber auch als joggingsüchtig, um abzunehmen. »Nachts noch zehn Kilometer mit Stirnlampe waren normal.« Sie hat ihre eigenen Ernährungspläne entwickelt: Plan A, Plan B, Plan C. Doch sie haben versagt. »Ich war undiszipliniert, habe mich nicht daran gehalten. Ich wollte Schokolade.«

»Ich konnte mein Kind nicht versorgen, lag mit Schmerzen am Boden «

Mit Ende 20 wollte sie auch Kinder. Hatte ihren damaligen Mann kennengelernt, mit ihm ein Haus gebaut. Die biologische Uhr tickte langsam lauter. Da sie keinen Zyklus hatte, halfen die Ärzte von außen nach. Mit 29 bekam Steffi Faigle ihre erste Tochter. »Das war für mich der absolute Wendepunkt.« Doch sie konnte ihr Kind nicht versorgen, »lag mit Schmerzen am Boden«.

Wegen der jahrzehntelangen Mangelernährung hatte sie Gallensteine und Koliken. Einige Zähne fielen ihr aus, die Haare wurden dünn. »Wenn Sie so weitermachen, werden Sie keine 60«, prognostizierte ihr Hausarzt. »Am allerschlimmsten ist der Magen - bis heute«, sagt die ehemals Suchtkranke. Doch Steffi Faigle hat nicht so weitergemacht. »Esset Se g'scheit«, hat der Arzt ihr geraten.

»Ich habe angefangen, das Leben zu lieben«

Sie hat seinen Rat befolgt. Und den ihrer damaligen Nachbarin. »Mit unseren Gedanken erschaffen wir uns unsere Realität selber«, sagte die. Steffi Faigle hat sich neue Gedanken gemacht. »Weg von der Waage, hin zu mir selbst.« Sie hat sich mögen gelernt. Und das Essen genießen. »Es war nicht mehr Stress- oder Frust-Abbau oder Trauerbewältigung.« Die 44-Jährige hat sich auch von den Idealen der Gesellschaft freigemacht. Und lebt jetzt ihre eigene Persönlichkeit. »In sechs Monaten waren 15 Kilo weg - ohne aufs Essen zu achten.«

Von Diäten hält sie wenig. Von neuen Gedanken, die das Verhalten verändern können, viel. "Es geht nur von innen nach außen", ist Steffi Faigle überzeugt. Ganz tief drinnen hat sich einiges in ihr bewegt: »Ich habe angefangen, das Leben zu lieben«, sagt sie. Sie lächelt. Und beißt entspannt in den Zitronenkeks. (GEA)

Lesung in Reutlingen

»Kalorien können mich mal«, heißt das Buch von Steffi Faigle, aus dem sie am Mittwoch, 19. Februar, um 19.30 Uhr in der Buchhandlung Osiander in Reutlingen liest. (pfi)