METZINGEN. Über ein Jahrzehnt ist es her, da wurde in Baden-Württemberg die Gemeinschaftsschule eingeführt. Die Schulen von Ralf-Michael Röckel (Walddorfhäslach) und Mathias Kessler (damals Bad Urach) gehörten zu den ersten im Land. Damals und heute kamen die beiden Rektoren zum GEA-Interview in die Metzinger Redaktion. Was ist aus der Begeisterung geworden?
GEA: Vor zwölf Jahren starteten Sie mit großer Begeisterung in die neue Schulform Gemeinschaftsschule. Ist sie für Sie immer noch ein Erfolgsmodell?
Ralf-Michael Röckel: Nach wie vor ist das ein absolutes Erfolgsmodell für unsere Kinder. Gemeinschaftsschule hat ein zutiefst christliches Menschenbild: Jedes Kind ist wichtig. Für mich sind es Rohdiamanten, die geschliffen werden müssen.
Mathias Kessler: Wir haben damals gedacht, wir haben jetzt den Hebel in der Hand, um die Welt aus den Angeln zu heben. Ganz so ist es dann nicht gekommen. Aber diese Schulform hat sich etabliert vor Ort.
Wurden die Schulen ausreichend ausgestattet?
Röckel: Damals galt das Vier-Augen-Prinzip. Das bedeutet: zwei Lehrkräfte pro Klasse. Das wurde nicht umgesetzt. Die Schule war von Anfang an als inklusive Schule gedacht. Da kann ich keinen Klassenteiler von 28 haben. Die richtige Klassengröße wäre für mich 20 bis 25 Schüler. Ich habe auch ein Stück weit die Marathonqualität von unserer Landesregierung vermisst. Wir sind mit einer Goldgräberstimmung in die Gemeinschaftsschulen gestartet. Kein Kind wird selektiert. Wir dürfen Kinder nicht einsortieren. Jedes Kind soll die Möglichkeit bekommen, den bestmöglichen Abschluss zu machen. Ich hätte mir damals gewünscht, dass die Landesregierung vor zwölf Jahren ihre Bildungsstruktur gnadenlos durchgezogen hätte. Es gibt nichts gerechteres und ressourcenschonenderes als ein zweigliedriges Schulsystem: Man hat einen gymnasialen Zweig und die Gemeinschaftsschulen. Alles andere braucht man nicht. Wir sind mit einem Ferrari gestartet, jetzt können wir mit unserem Auto aber nicht mehr auf den Hockenheimring.
»Kinder werden nicht besser durch Noten«
Wie werden die Schulen vor Ort angenommen?
Kessler:Sowohl in Walddorfhäslach als auch in Kirchentellinsfurt haben sich die beiden Gemeinschaftsschulen absolut etabliert. In Kirchentellinsfurt bewegen sich die Schülerzahlen immer an der oberen Grenze. Wir haben ab Klasse sechs bis Klasse neun immer jeweils einige Kinder, die zu uns vom Gymnasium kommen. Deshalb sind wir in den oberen Klassen immer am Limit.Röckel: Auch wir sind stabil zweizügig und immer gut nachgefragt. Viele Eltern und Schüler haben schon Angst, dass sie keinen Platz mehr in Walddorfhäslach bekommen.
Bei Einführung der neuen Schulart war mal davon die Rede, dass sie nur funktionieren kann, wenn sich die Leistungsniveaus der Schüler in den einzelnen Klassen dritteln. Wie sieht es in der Praxis aus?
Röckel:Ein Großteil ist G (Grund) und M (Mittleres) Niveau in Walddorfhäslach. Pro Jahrgang gibt es fünf bis sieben Schüler, die auf erweitertem Niveau arbeiten. Die Drittel-Einteilung lag an der früheren Grundschulempfehlung: Ein Drittel haben früher die Gymnasialempfehlung bekommen. Prinzipiell ist es mir egal, mit welcher Bildungsempfehlung die Kinder zu uns kommen. Ich schaue da nicht großartig drauf. Wichtig ist, dass sie das Gemeinschaftsschulsystem leben. Dass sie eine Schule haben, wo sie sich wohlfühlen und nach ihren Neigungen lernen können. Bei mir machen ein Drittel der Schüler Hauptschulabschluss, aber fast 60 Prozent davon machen weiter. Wir haben alle unendlich viele Bildungsmöglichkeiten in Baden-Württemberg.
Kessler: In Kirchentellinsfurt sind es 20 Prozent der Kinder, die auf erweitertem Niveau lernen. Wir haben eine zunehmende Anzahl an Schülern bei uns, die keinen Abschluss machen, sondern sich von Klasse 10 nach 11 gymnasial versetzen lassen. Mittlerweile wissen die Eltern besser, wie Gemeinschaftsschule funktioniert.
Lernen Sie immer noch projektorientiert? Das war ja die Idee am Anfang.
Kessler: Wir lernen frontal, wir lernen kooperativ, wir lernen individuell, wir lernen in Projekten. Die Bandbreite war schon immer da. In den Anfängen der ... ich nenne sie ... Lagerfeuerromantik hätte man sich Frontalunterricht nie getraut. Da hat sich vieles normalisiert.
Geben Sie mittlerweile Noten oder nach wie vor nur Lernentwicklungsberichte?
Kessler: Wenn es gewollt ist, gibt es Noten ab der fünften Klasse. Auch da hat sich was verändert. Früher haben wir in jedem Lernentwicklungsbericht und pro Fach eineinhalb Seiten geschrieben. Da war Schülern und Eltern klar, um was es geht, wo die Entwicklungspotenziale liegen. Mittlerweile dürfen nur noch maximal acht Zeilen pro Fach geschrieben werden. Wenn die Texte zu kurz werden, dann kann man sich womöglich unter einer Note mehr vorstellen. Da bin ich nicht mehr dogmatisch.
Röckel: Kinder werden nicht besser durch Noten, sondern sie werden besser durch Ermutigung. Wir geben erst Noten ab Klasse acht. Wir müssen die Schwächen schwächen und die Stärken stärken.
Immer wieder wird im Land über die Wiedereinführung der verbindlichen Grundschulempfehlung diskutiert. Was halten Sie davon?
Kessler: Wir sind zehn Jahre lang einen super Weg gegangen. Wir haben ein tolles Beratungskonzept für die Kinder und Eltern in der Grundschule. Dadurch werden Eltern und Kinder fit und kompetent für die Entscheidung auf welche weiterführende Schule das Kind gehen soll. Für Kirchentellinsfurt lässt sich sagen, dass auch aufgrund dieses Beratungskonzeptes Eltern und Lehrkräfte nahezu immer identische Einschätzungen zu dem Weg der Kinder in die weiterführende Schule haben. Abgesehen davon wird ja das gymnasiale Niveau bei uns auch unterrichtet.Was hat sich seit der Einführung der Gemeinschaftsschule verändert?
Kessler: Es hat sich mittlerweile ein integrierendes Schulsystem in ganz Baden-Württemberg breit gemacht. Die Schulverlage sind darauf eingestiegen. Europaweit sind wir schon noch relativ weit hinten dran, aber für das Land Baden-Württemberg hat sich viel getan.
Was macht für Sie der Kern der Gemeinschaftsschulen aus?
Röckel: Gemeinschaftsschule ist die Schulart, von der wir im Studium geträumt haben. Das war für uns ein Traum, als wir gestartet sind. Mein Konrektor hat deshalb extra noch seine Dienstzeiten verlängert. Die Hauptschule in Walddorfhäslach war damals knapp an der Existenzgrenze mit der Zahl der Schüler. Durch die Gemeinschaftsschule haben wir einen richtigen Hype bekommen. Wir haben beim Start gedacht, wir retten jetzt die Pädagogik in ganz Baden-Württemberg – wir machen die Welt ein Stück weit besser.
Kessler: Wir haben die Welt auch ein Stück weit besser gemacht. In der Gemeinschaftsschule wird die Vorstellung einer modernen Gesellschaft gelebt. Wir brauchen Heterogenität, wir brauchen Pluralismus. Wir brauchen keine Gesellschaft, die irgendwelche Mauern und Grenzen hochzieht. Wir müssen uns irgendwann Gedanken machen, wie wir eine moderne Gesellschaft hinkriegen. Bisher denken wir selektierend, wir denken abgrenzend. Die Gemeinschaftsschule ist keine heile Welt, aber sie ist integrativ. Wir brauchen ein Schulsystem, indem Schüler mit allen Voraussetzungen zusammenleben und zusammen arbeiten können.
Aber scheitert das hehre Vorhaben der Vielfalt nicht an der Realität? Direkt gefragt: Hat eine Schule eine Chance, an der ein großer Teil der Schüler kein Deutsch versteht?
Kessler: Meine Haltung in dieser Frage ist: An unserer Schule sind Kinder angemeldet und für genau diese Kinder will ich eine optimale Schullaufbahn schaffen. Für diese angemeldeten Kinder muss ich sorgen, egal, was das System sagt. Ich glaube, die Frage ist, wie viel Druck macht mir das System, dass ich mich nicht gut um diese Kinder kümmern kann. In Kirchentellinsfurt haben wir uns in den vergangenen Jahren sehr professionalisiert in Hinblick auf Inklusion. Das Thema Inklusion ist allerdings von der letzten Kultusministerin (Eisenmann) ziemlich stiefmütterlich behandelt worden.Röckel: In Walddorfhäslach läuft alles tipptopp. Für Schulen in Großstädten mit bildungsferner Elternschaft müssen wir allerdings bildungspolitisch die Voraussetzung schaffen, dass die Kinder eine Chance bekommen. Ich kann Kirchentellinsfurt oder Walddorfhäslach nicht mit Stuttgart vergleichen. Aber egal wo ich wohne, muss ich die Chance auf eine gleiche Bildung haben. Es geht schließlich auch um die Frage, wie wir mit Menschen umgehen, die anders aussehen. Kümmern wir uns um ihren Hintergrund, wo sie herkommen, was sie erlebt haben? Jeder, der eine Arbeit verfolgt, muss davon leben können. Da ist auch Schule dafür verantwortlich, dass wir diese Bildung vermitteln. Da müssen halt die Stellschrauben entsprechend gedreht werden, dass das funktioniert.
Was heißt das konkret?
Röckel: Ein anderer Klassenteiler vielleicht. Vielleicht brauche ich aber in dieser Klasse tatsächlich auch zwei Lehrkräfte. Das wäre für mich Bildungsgerechtigkeit. Es kann nicht sein, dass ich nur weil ich in Osnabrück wohne, nicht so gute Bildungschancen habe wie in Kirchentellinsfurt. Da muss man handeln. In Walddorfhäslach hat jeder Schüler, der die Schule verlässt, einen Zukunftsplan: Er hat entweder die Zusage für eine Ausbildung oder einen Platz an einer weiterführenden Schule. Darauf sind wir stolz.
Das Schulsystem müsste also flexibler werden?
Röckel: Ja. Hamburg hat das zum Beispiel relativ gut geschafft. Die hatten kein gutes Bildungssystem. Jetzt haben sie die Stellschrauben anders geändert und sind weit vorne, was PISA betrifft.
»Es ist die Schulart, von der wir im Studium immer geträumt haben«
Wären mehr Lehrer die Lösung?
Kessler: Nein, wir brauchen eine Entscheidung, wie wir Bildung in Baden-Württemberg künftig gestalten wollen. Wir stecken in einem System, das immer mal wieder weiter oder schmäler wird. Aber es ist kein echter Wurf. Alle Reformen sind im Grunde genommen nur Korrekturen. Das macht auch die Menschen unzufrieden. Früher war klar, wie der Lehrerberuf ausgerichtet ist. Mittlerweile muss man flexibler denken. Das ist einerseits gut, andererseits ist für die meisten Menschen der Plan, der dahinter steckt nicht so richtig erkennbar.
Röckel: Ich muss den Lehrerberuf auf irgendeine Weise attraktiv machen. Ich will gar nicht auf der Besoldung rumhacken. Aber vielleicht muss ich mir Gedanken über die Arbeitszeit machen, oder eine andere Wertschätzung der Tätigkeit entgegenbringen. Wir brauchen die besten Menschen in der Schule und nicht bei Daimler, bei Porsche oder bei VW. Die müssen in die Schule. Sie müssen Begeisterung wecken für das Leben und die Gesellschaft. Wir müssen uns fragen, wo unsere Gesellschaft hindriftet. Wir müssen unseren Kindern die bestmögliche Bildung geben.
In Baden-Württemberg soll jetzt wieder das G9 eingeführt werden. Was halten Sie davon?
Röckel: Ich verstehe das nicht. Warum mache ich jetzt wieder eine Rolle rückwärts? Wir hatten G9 über das berufliche Gymnasium oder die Oberstufe der Gemeinschaftsschule. Warum wird jetzt wieder alles durcheinandergebracht? Den Ganztag im Gymnasium gibt es mit der Einführung des G9 nicht mehr. Die Kinder kommen um 12 oder 13 Uhr nach Hause. Ist das gewünscht plötzlich? Kessler: Wir haben Ganztag für Unter- und Überdreijährige, in der Grundschule und an der Gemeinschaftsschule. Und jetzt kommt G9 und löst das alles wieder auf. Es gibt einige gute Gedanken, die beim G9 verwirklicht werden sollen. Aber was ist genau die gesellschaftliche Idee, die dahinter steckt? Verfolgt das ein großes Ziel? Mir fehlt die überzeugende Idee dahinter.
Sind sie noch glücklich mit Ihrem Job als Rektor einer Gemeinschaftsschule?
Röckel: Schulleiter in Kirchentellinsfurt und Walddorfhäslach zu sein, ist der beste Job, den es gibt. Den möchte ich mit niemanden tauschen. (»Bester Job nach Papst«, ruft Kessler). Wir können zufrieden sein, wir haben viel geleistet. Auf keinen Fall dürfen wir zurückrudern. Ganz im Gegenteil. Wir müssen die Gemeinschaftsschule noch mehr stärken.
Kessler: Das Spannende ist: Wie geht es jetzt weiter? Wir haben viele Aufgaben vor uns, an denen wir arbeiten müssen.
Wie sollte es denn weitergehen?
Kessler:Wir müssen uns fragen, wie integrativ unser Schulsystem ist. Wie werden unsere Kinder mit dem Klimawandel leben können? Welche Fähigkeiten brauchen sie dazu? Wie viel Informatik, künstliche Intelligenz aber auch Ethik muss gekonnt werden? Da braucht es einen Weg in der Gesellschaft, der sich nicht an parteipolitischen Abgrenzungen orientiert. Andere Länder machen uns das weltweit vor. Ich kann ein selektierendes Schulsystem fördern oder ein integratives System. Das kostet Zeit, das kostet Geld. Irgendwann muss man anfangen.
Röckel: Wir müssen schauen, dass wir Jugendliche begeistern für den Lehrerberuf. Da müssen wir die Besten haben, die ein Herz für Kinder haben.Uns geht es noch relativ gut in Baden-Württemberg. Aber jeder sollte sich mit seinen Talenten in die Gesellschaft einbringen. Vor allem aber müssen wir aufhören zu jammern, und die Schulleiter vor Ort machen lassen. Ressourcen in die Schule reinbuttern, das ist der Weg. Wenn der Kessler sagt, er braucht fünf Stunden mehr für seine Sprachförderung, dann kriegt er sechs Stunden. Nur so kann es gehen. (GEA)
ZUR PERSON
Mathias Kessler ist seit 2017 Schulleiter an der Graf-Eberhard-Schule in Kirchentellinsfurt. Zuvor war er Konrektor an der Französischen Schule in Tübingen und Schulleiter in Bad Urach. Der 58-Jährige hat Theologie studiert, bevor er sich für den Lehrerberuf entschied. Ralf-Michael Röckel ist seit 2002 Leiter der Gustav-Werner-Schule Walddorfhäslach. Nach diesem Schuljahr geht der 63-Jährige in den Ruhestand. (iwa)