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Aktuell Solidarität

Verein »Ermstal hilft« kümmert sich um Ukrainer

Am 24. Februar 2022 begann die Invasion russischer Truppen in die Ukraine. Fast von Anfang an leistet »Ermstal hilft« humanitäre Hilfe vor Ort und kümmert sich in der Region um Geflüchtete. 80 Fahrten hat »Ermstal hilft« schon organisiert und dabei rund 150 Tonnen Hilfsgüter in die Ukraine geschafft. Der eingetragene Verein hat jetzt die Bundestagsabgeordneten Beate Müller-Gemmeke (Grüne) und Michael Donth (CDU) in die Region Odessa mitgenommen

Vor einem zerstörtem Haus in Pervomaiske: Beate Müller-Gemmeke (Vierte von links) und Michael Donth (Vierter von links).
Vor einem zerstörtem Haus in Pervomaiske: Beate Müller-Gemmeke (Vierte von links) und Michael Donth (Vierter von links).

DETTINGEN/ODESSA. Die Einladung von »Ermstal hilft« kam schon vor dem 7. Oktober. »Mir ist es wichtig, dass die Ukraine angesichts des Kriegs in Israel nicht hinten runterfällt«, sagt Beate Müller-Gemmeke, »ich wäre aber eh hingefahren.« Sie war noch nie in einem Kriegsgebiet, sagt die Grünen-Bundestagsabgeordnete aus Pliezhausen, »von daher überlegt man sich’s schon«. Ihr CDU-Kollege Michael Donth war auch noch nie in der Ukraine, aber schon in einem Kriegsgebiet. Das war vor sechs, sieben Jahren in einem Feldlager in Afghanistan. Ein Krieg in Vorderasien sieht aber völlig anders aus als der in Europa, direkt vor Haustür. »Meine Familie war not amused, als ich erzählt habe, dass ich in die Ukraine fahre«, sagt er. Schützengräben kennt der Mann aus Römerstein aus seiner Bundeswehr-Zeit. Eine echten zu sehen, gleich an der Grenze, ist eine andere Hausnummer. Spätestens jetzt weiß man, dass man in einem Kriegs-Land ist.

Cornelia Veit, die Chefin des Bempflinger Bäckerhauses Veit, hat mit ihrer »Erms-täler-Aktion« vom 23. März 2022 bis zum 31. Nov
Cornelia Veit, die Chefin des Bempflinger Bäckerhauses Veit, hat mit ihrer »Erms-täler-Aktion« vom 23. März 2022 bis zum 31. November 2023 insgesamt 76.138 Euro locker gemacht und »Ermstal hilft« gespendet. FOTO: FINK
Cornelia Veit, die Chefin des Bempflinger Bäckerhauses Veit, hat mit ihrer »Erms-täler-Aktion« vom 23. März 2022 bis zum 31. November 2023 insgesamt 76.138 Euro locker gemacht und »Ermstal hilft« gespendet. FOTO: FINK

Umso – Michael Donth sucht nach Worten und wählt das englische »strange«, umso seltsamer, befremdlicher ist es, wenn man in Odessa an einem wunderschönen Tag geplatzte Fenster sieht. Vor allem, wenn an so einem schönen Tag auf dem Handy mal wieder die Warn-App runtergeht. »Luftalarm! ALLE IN DEN SCHUTZRAUM!«, heult und blinkt es dann auf. Am Anfang zieht man reflexartig den Kopf ein und kriegt Gänsehaut.

»Das Verrückte ist, dass sich die Leute gar nicht mehr aufregen«, sagt Beate Müller-Gemmeke, »sie ignorieren’s einfach, weil sie sonst ja verrückt werden. Wir haben natürlich geschluckt, weil wir’s nicht gewöhnt sind.« Mit der Zeit haben sie sich an den Ukrainern orientiert und getan, als wäre nichts.

Beate Müller-Gemmeke in der Suppenküche von Mykolajiw. Valentyna kocht seit einem Jahr täglich tausend Suppen pro Tag für Binnen
Beate Müller-Gemmeke in der Suppenküche von Mykolajiw. Valentyna kocht seit einem Jahr täglich tausend Suppen pro Tag für Binnenflüchtlinge. Das Strahlen der Frau war für sie einer der emotionalsten Momente. Foto: Gea
Beate Müller-Gemmeke in der Suppenküche von Mykolajiw. Valentyna kocht seit einem Jahr täglich tausend Suppen pro Tag für Binnenflüchtlinge. Das Strahlen der Frau war für sie einer der emotionalsten Momente.
Foto: Gea

»Am Anfang waren die Ukrainer auch paralysiert, haben wir in Gesprächen immer wieder erfahren«, sagt Beate Müller-Gemmeke, »dann sind sie aber raus, um nicht verrückt zu werden. Um zu leben. Bei einem Angriff ducken sich die Ukrainer kurz weg, danach schütteln sie sich, räumen auf und bauen wieder auf.«

In der Zeit, in der die beiden Bundestagsabgeordneten zusammen mit der Kulturreferentin für Bessarabien im Staatsministerium Dr. Heinke Fabritius in der Ukraine waren, gab’s keinen Angriff, obwohl die Front nur 30 bis 40 Kilometer weg ist. Auch nachts mussten sie nie in Schutzräumen oder Bunkern abtauchen. In einer angespannten Lage ist Schlaf ein Segen. Was aber passiert, wenn eine Rakete einschlägt, haben sie in den fünf Tagen ständig gesehen. Der Trümmerhaufen in Pervomaiske, der mal ein Haus war. Die kaputte, weil schwer umkämpfte und von den Ukrainern wieder befreiten Gemeinde Pervomaiske, in der fast 80 Menschen in feuchten, muffigen Kellern überlebt hatten. Die russisch-orthodoxe Kirche, die gezielt beschossen wurde. Volltreffer im Heiligtum: dem Altar.

»Diese unglaubliche Solidarität und Kraft ist beeindruckend und großartig«

»Wir haben gesehen, dass die meisten Einschläge bei Bildungs- und Kultureinrichtungen zu verzeichnen sind«, sagt Michael Donth, »nach meiner Beobachtung gibt’s da eine klare Strategie des Feindes: die Zukunft des Landes zu zerstören.« Zwischen all den Bildern von zerstörten Dörfern und Städten immer wieder Bilder der Hoffnung: In Pervomaiske neu gedeckte Dächer, Fenster, die mit Holzplatten zugemacht wurden, bevor das Glas kommt. Menschen in Vorgärten, kleine Kinder schaukeln auf einem Spielplatz neben der zerstörten Schule. Jemand hat Rosen gepflanzt. »Normalität hinter der Front, für die Gebliebenen, die überlebt haben, geht das Leben weiter, stolz und selbstbestimmt«, beschreibt Holger Weiblen, einer der Aktiven von »Ermstal hilft« die Szenerie, »angesichts der noch verminten Umgebung für uns schön und bedrückend zugleich«.

Luftalarm! ALLE IN DEN SCHUTZRAUM! Dann wieder Entwarnung. Das Bild zeigt einen Screenshot von Beate Müller-Gemmekes Smartphone.
Luftalarm! ALLE IN DEN SCHUTZRAUM! Dann wieder Entwarnung. Das Bild zeigt einen Screenshot von Beate Müller-Gemmekes Smartphone. Foto: Gea
Luftalarm! ALLE IN DEN SCHUTZRAUM! Dann wieder Entwarnung. Das Bild zeigt einen Screenshot von Beate Müller-Gemmekes Smartphone.
Foto: Gea

Simon Nowotni und Martin Salzer, die Erfinder und Macher von »Ermstal hilft«, waren schon oft hier. In der befreiten Gemeinde trafen sie zufällig Valentyna. Mit der 80-Jährigen hatten sie schon an Ostern über den Wiederaufbau ihres Hauses gesprochen. Jetzt sahen sie sie mit einem Glättbrett, das sie in den Trümmern gefunden hatte und zu ihrem Nachbar trug. Auf dem Foto, das sie in Kittelschürze im Gespräch mit der Ermstal-hilft-Gruppe zeigt, lächelt sie. »Wir gehen beeindruckt und etwas belämmert weiter«, beschreibt Weiblen die Szene.

In Mykolajiw haben vor dem Krieg knapp eine halbe Million Menschen gelebt. Hier sieht man überall die Zerstörungen von Putins Armee. In Sichtweite der nach einem Raketentreffer einsturzgefährdeten Gebietsverwaltung steht eine Reihe eroberter russischer Panzer mit dem »Z«. In einer Seitenstraße der Krater einer Streubombe, die ein Mann zu einer makabren Street Art veredelt hat. In der Stadt steht das Wärmezelt, in dem bis zu tausend Suppen und frisch gebackene Brote an Binnenflüchtlinge ausgegeben werden. Hier trifft Beate Müller-Gemmeke die Frau, die seit einem Jahr an sieben von sieben Tagen Suppe kocht. Sie strahlt. Beate und Valentyna kommen – von Dolmetscherin Ludmilla übersetzt – ins Gespräch. Die Suppe schmeckt. »Danach bin ich auf die Seite gegangen und habe Rotz und Wasser geheult«, sagt Müller-Gemmeke. Ein Overkill an zu unterschiedlichen Emotionen in zu kurzer Zeit. »Als wir aus der Stadt rausgefahren sind, ging der nächste Alarm los, erst auf dem Handy, dann heulten auch die Sirenen«, sagt sie, »das greift einen schon an.«

Makabre Streetart am Einschlags-Ort einer – geächteten – »Flechette-Bombe«. In der Hand von Michael Donth sieht man einen der Ei
Makabre Streetart am Einschlags-Ort einer – geächteten – »Flechette-Bombe«. In der Hand von Michael Donth sieht man einen der Eisenpfeile, die tausendfach todbringend in alle Richtung geschleudert werden. Foto: Gea
Makabre Streetart am Einschlags-Ort einer – geächteten – »Flechette-Bombe«. In der Hand von Michael Donth sieht man einen der Eisenpfeile, die tausendfach todbringend in alle Richtung geschleudert werden.
Foto: Gea

Der Tod ist immer präsent, auch wenn nicht viel darüber geredet wird, sagt Michael Donth, »das war nicht das schlagende Thema«. Auch Beate Müller-Gemmeke hat beobachtet, »dass weder über den Tod noch über Menschenrechtsverletzungen viel geredet wird«. Spätestens dann, wenn man in der Stadt Serata die Tafel mit den Namen von 25 Gefallenen sieht, »sieht man aber, dass in diesem Krieg Menschen sterben«.

»›Ermstal hilft‹ ist eine kleine Hilfsorganisation, die großartige Arbeit leistet«

80 Fahrten hat »Ermstal hilft« schon organisiert und dabei rund 150 Tonnen Hilfsgüter in die Ukraine geschafft, Simon Nowotni (im Hauptberuf Besitzer einer Autowerkstatt) hat ein Dutzend davon begleitet, Martin Salzer (im Hauptberuf Schulleiter der Uracher Goldstein-Schule) war auch schon acht Mal dabei. Möglich gemacht hat die Aktionen zu einem guten Teil das Bempflinger Bäckerhaus Veit mit ihrer »Ermstäler«-Aktion. Wer das Mehrkornbrötchen mit vielen lokalen Zutaten gekauft hat, zahlte 10 Cent extra, das Bäckerhaus legte seinerseits denselben Betrag drauf, sodass pro Stück 20 Cent an »Ermstal hilft« gingen. Vom 23. März 2022 bis zum 31. Oktober 2023 sind so 76.138 Euro zusammengekommen. »Es war uns ganz arg wichtig, gezielt zu helfen«, sagt Geschäftsführerin Cornelia Veit – und schiebt nach, warum sie so große Stücke auf »Ermstal hilft« hält: »Die wissen, wo das Geld hinkommt.«

Die »Ermstal hilft«-Köpfe sind unendlich dankbar für das Geld aus Bempflingen. »Es hat uns Planungssicherheit gegeben«, sagt Martin Salzer. Angesichts der Tatsache, dass sich der Mehl-Preis im vergangenen Jahr verdoppelt hat, wissen sie die Spende, die durch kleine Brötchen zusammengekommen ist, noch höher einzuschätzen. Mit 76.138 Euro kann man in der Ukraine viele kleine Wunder bewirken, rechnet der Vorsitzende Simon Nowotni vor. Zum Beispiel 18 Stromgeneratoren kaufen, 50 Kindern ein Zeltlager finanzieren, über ein Jahr lang zwei Deutschlehrerinnen im Ermstal finanzieren, 25 Aderpressen für Sanitäter an der Front kaufen oder 200 Handwerks- und Gartengeräte, weil die Soldaten sogar die mitgenommen haben. Dinge zum Durchhalten und zum Wiederaufbau.

Die Delegation aus dem Ermstal mit den »Ermstal hilft«-Vorsitzenden Simon Nowotni (2. von links) und Martin Salzer (2. von recht
Die Delegation aus dem Ermstal mit den »Ermstal hilft«-Vorsitzenden Simon Nowotni (2. von links) und Martin Salzer (2. von rechts) mit den Bundestagsabgeordneten Beate Müller-Gemmeke (Grüne) und Michael Donth (CDU) vor zerstörten russischen Panzern in Mykolajiw. Im Hintergrund die von einem Raketenangriff zerstörte Gebietsverwaltung. FOTOS: PRIVAT
Die Delegation aus dem Ermstal mit den »Ermstal hilft«-Vorsitzenden Simon Nowotni (2. von links) und Martin Salzer (2. von rechts) mit den Bundestagsabgeordneten Beate Müller-Gemmeke (Grüne) und Michael Donth (CDU) vor zerstörten russischen Panzern in Mykolajiw. Im Hintergrund die von einem Raketenangriff zerstörte Gebietsverwaltung. FOTOS: PRIVAT

Beate Müller-Gemmeke und Michael Donth haben in der Ukraine nicht nur laufend großen Dank und hohe Anerkennung erfahren – dafür, dass sich zwei Vertreter eines gesetzgebenden Organs in ein Kriegsgebiet gewagt haben. Grüne und CDU stehen für weitere Waffenlieferungen, der Besuch in der Ukraine hat Müller-Gemmeke und Donth in ihrer Zustimmung nur noch bestärkt. »Die Ukraine braucht nicht nur weiter Waffen«, sagt Müller-Gemmeke, »die Menschen brauchen unbedingt humanitäre Hilfe, gerade jetzt, wo der Winter kommt.«

»›Ermstal hilft‹ ist eine kleine Hilfsorganisation, die großartige Arbeit leistet«, sagt Beate Müller-Gemmeke, »ich hoffe, die Aktiven bekommen für ihre wertvolle Arbeit viele Spenden.« Sie, ihr Kollege Michael Donth und die Unternehmerin Cornelia Veit wollen ihr großes Netzwerk aktivieren, um Spenden lockerzumachen. Die Menschen hier sind kriegsmüde geworden, sagen Nowotni und Salzer: »Die Spendenbereitschaft hat drastisch nachgelassen.« Künftig wollen sie weniger Geld (in Form von Diesel) auf der Straße lassen und mehr vor Ort ausgeben. »Material gibt’s in der Ukraine«, sagt Martin Salzer. Wenn »Ermstal hilft« das Geld vor Ort einsetzt, gibt’s auch weniger Probleme mit den verschärften Anti-Korruptions-Bestimmungen, von denen Michael Donth berichtet. »Da tut sich wirklich was im Land, das bedeutet aber zusätzliche Bürokratie für ›Ermstal hilft‹.«

Der Kampf geht weiter. Der blutige auf der einen Seite und der ideelle von »Erms-tal hilft« um Spenden auf der anderen. Beate Müller-Gemmeke und Michael Donth dürften nicht das letzte Mal in der Ukraine gewesen sein. (GEA)

 

www.ermstal-hilft.de