METZINGEN. Kann man je genug der Opfer der NS-Gewaltherrschaft gedenken und mahnen in einer Zeit, in der außenpolitisch Diktatoren wirken und im Inneren antidemokratische Strömungen zunehmen, die die Gesellschaft spalten können? Nein, hat die große Metzinger Gemeinderatsmehrheit gesagt - und beschlossen, vor sechs Häusern in der Stadt Stolpersteine verlegen zu lassen. Solche des Künstlers Gunter Demnig, der mit seinem Team europaweit schon 118.000 dieser quadratischen Messingsteine in die Straßen und Gassen gebracht hat - 33 davon in dem ehemaligen jüdischen Dorf Buttenhausen im Lautertal.
Passanten, die sich daran stoßen, kommen der menschenverachtenden Wahrheit auf die Spur. Bald auch in Metzingen: In der Nürtinger Straße 28 werden sie erfahren, dass der ehemalige stellvertretende Bürgermeister, Gemeinderat und KPD-Landtagsabgeordnete Albert Fischer von 1939 bis 1945 im KZ war; in der Schillerstraße 34 werden sie Adolf und Jenny Herold auf die Spur kommen, die nach Riga deportiert und dort ermordet wurden; in der Stuttgarter Straße 12-16, Beim Rathaus 16, in der Urbanstraße 10 und in der Gustav-Werner-Straße 1 wird sichtbar werden, dass Adam Gassner, Friederike Schäfer, Karl und Kurt Knaisch sowie Sophie Ruoss in Grafeneck ermordet wurden.
»Die letzten Zeitzeuginnen werden bald nicht mehr erzählen können. Es liegt jetzt an uns, ihre Geschichten wachzuhalten«
Groß war die Gruppe derjenigen Gemeinderäte, die eindringlich zu einer möglichst breiten und umfangreichen Erinnerungskultur in der Stadt aufriefen. Nicht von ungefähr hatten alle Fraktionen außer der CDU zusammen mit den fraktionslosen FDP-und Rätinnen und dem Stadtrat der SPD einen Antrag bei der Stadtverwaltung eingereicht, Stolpersteine verlegen zu lassen. »Die letzten Zeitzeug:innen werden bald nicht mehr erzählen können«, machte Lisa-Maria Weigert (Grüne) bewusst, »es liegt jetzt an uns, ihre Geschichten wachzuhalten.«
Und das nicht nur an Gedenktagen wie dem 8. Mai, dem Kriegsende 1945 und der Befreiung der Welt von Nazi-Deutschland, sondern an jedem einzelnen Tag. »Stolpersteine sind ein sichtbares, niedrigschwelliges und zugleich sehr persönliches Zeichen des Erinnerns.« Direkt vor den Häusern, in denen Menschen aus ihrem Alltag gerissen wurden.
»Wir sehen keine Notwendigkeit für weitere Formen des Gedenkens, haben uns bewusst für die Stele von Konrad Schlipf entschieden «
Schon seit zehn Jahren beschäftigen sich Metzinger Einwohner intensiv mit dem Erinnern an die NS-Opfer. In einer ersten Diskussion kamen die Stolpersteine vor, doch hat sich der Gemeinderat Jahre später für eine Skulptur des einheimischen Künstlers Konrad Schlipf entschieden, die Anfang Oktober 2021 eingeweiht wurde: eine Weltkugel mit Riss, aus der eine Bronzespur auf die Rathausstufen fließt. Die Kugel hält der tiefen Verletzung stand.
Sie steht eher versteckt - jetzt ein Kritikpunkt mehrerer Räte - , doch genügt sie zumindest der CDU-Fraktion auch weiterhin. »Wir sehen keine Notwendigkeit für weitere Formen des Gedenkens«, betonte Fraktionssprecher Eckart Ruopp, »wir haben uns damals bewusst für die individuelle Gedenkstele entschieden«, die an alle Opfer der NS-Gewaltherrschaft in der Stadt erinnere.

Die Ratsmehrheit und Oberbürgermeisterin Carmen Haberstroh argumentierten nicht so sehr mit dem Damals, sondern vielmehr mit der Entwicklung. »Die Zeiten haben sich geändert, die Welt ist eine andere« für Stefan Köhler (FWV), »da ist es gut, wenn man ab und zu mal wachgerüttelt wird.«
»Man kann nicht oft genug erinnern und sagen: Macht so etwas nie wieder!«
Und das nicht nur an einer Stelle, wo die bestehende Skulptur »eher ein trauriges Dasein fristet«, sondern auch an anderen Punkten in der Stadt. »Ein bisschen rundum gucken«, wollte auch FDP-Rätin Dr. Ursula Wilgenbus, »man kann nicht oft genug erinnern.« Und sagen: »Macht so etwas nie wieder!«
Das Gedenken soll nicht nur in den Köpfen und Seelen der Innehaltenden geschehen, sondern auch kollektiv: Laut Grünen-Rätin Weigert hat Dr. Michael Becker, Geschichtslehrer und Vorsitzender der Fachschaft Geschichte am Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium, die Unterstützung der Schule für das Stolperstein-Projekt zugesagt - mit Projekten, Einbindung von Leistungskursen und einem bestehenden Seminarkurs zum Thema jüdisches Leben in der Region.
»Es tut nichts zur Sache, ob jemand mit Sandalen oder Springerstiefeln drüberläuft. Unter der Stuttgarter Straße liegen keine Menschen «
CDU-Rätin Karin Theis tat sich schwer mit dem Gedanken, dass jemand mit Springerstiefeln auf Stolpersteinen steht. Und bekam Contra von Alexander Hack (SPD): »Es tut nichts zur Sache, ob jemand mit Sandalen oder Springerstiefeln drüber läuft. Unter der Stuttgarter Straße liegen keine Menschen.« Auch OB Haberstroh plädierte dafür, mit den Stolpersteinen weitere Erinnerungsmöglichkeiten in der Stadt zu schaffen, näher an den Menschen. »Ich bin ein bisschen unglücklich mit dem Ort der Stele.« Die Verwaltung will sich Gedanken machen, wie man dort etwas verändern könnte. Besser gepflegt könnte die laubübersäte und befleckte Ecke mit der Schlipf-Kugel allemal sein.
Die fünf CDUler blieben beharrlich bei ihren Nein zu den in unzähligen deutschen Städten und Gemeinden verbreiteten Stolpersteinen, die große Ratsmehrheit ging bei der Erinnerungskultur in die Offensive. Die jeweils 120 Euro teuren Gedenksteine von Gunter Demnig sollen sobald wie möglich verlegt werden. Zudem will Stadtarchivar Rolf Bidlingmaier zusammen mit Schulen, Geschichtsvereinen, Religionsgemeinschaften und interessierten Bürgern ein erinnerungskulturelles Konzept ausarbeiten. (GEA)

