ERMSTAL / REUTLINGEN. Wie soll man strafrechtlich solch einen durch und durch tragischen Fall bewerten? Diese Frage stellte sich gestern nicht nur Verteidiger Christian Niederhöfer, sondern auch Richter Sierk Hamann und Staatsanwalt Valentin Rebstock am Reutlinger Amtsgericht. Was war geschehen?
Am 12. Mai vergangenen Jahres fuhr ein damals 19-Jähriger aus dem Ermstal zu schnell auf der Strecke zwischen Grabenstetten und Bad Urach. Das Fahrzeug mit drei Insassen näherte sich einer langgezogenen Rechtskurve, »dort wären 80 Stundenkilometer angemessen gewesen, erlaubt waren 100 – gefahren ist der Angeklagte mit mindestens 130 Stundenkilometern«, erläuterte der Kfz-Sachverständige Matthias Fischer dem Gericht. Rein physikalisch sei es unmöglich, diese Kurve mit diesem Radius mit solch einer Geschwindigkeit schadlos zu durchfahren.
Sechs Meter durch die Luft geflogen
Die Folge war, dass der junge Mann mit seinen beiden Mitfahrern in der Kurve nach links abdriftete, alles Bremsen half nichts mehr, eine beginnende Leitplanke wurde nicht zum Hindernis, sondern zur Startrampe, auf der das Auto erst entlangschlitterte, dann sechs Meter durch die Luft flog und gegen einen Baum prallte. Der Motorblock hatte sich in den Fußraum geschoben, die beiden Jugendlichen vorne überlebten.
Der dritte junge Mann, der hinten saß, nicht. Er war nicht angeschnallt. Durch den Aufprall hatte es ihn an den Vordersitzen vorbei, durch die Windschutzscheibe hindurch geschleudert. Einen Tag später starb er an seinen schweren Verletzungen. »Das Fahrzeug ist noch mit einer Geschwindigkeit von 80 Stundenkilometern gegen den Baum geknallt«, hatte Fischer berechnet.
Alkohol oder Drogen waren beim Fahrer nicht festgestellt worden. Er sei immer verantwortungsvoll gefahren, habe nie Alkohol getrunken, wenn er fuhr. Und er habe seine Mitfahrer immer angewiesen, sich anzuschnallen, sagte er selbst. Warum der Verstorbene nicht angeschnallt war, spiele in dem Verfahren keine Rolle, betonte der Richter. Klar sei aber laut Gutachter, dass der junge Mann mit sehr großer Wahrscheinlichkeit überlebt hätte, wenn er angegurtet gewesen wäre.
Ein »schicksalhafter Moment«
"Das fehlerhafte Verhalten des Angeklagten im Straßenverkehr ist hier eindeutig und klar", konstatierte Sierk Hamann. "Sie haben alles falsch gemacht: Sie sind mit einem 1,5 Tonnen schweren Fahrzeug mit mindestens 130 Stundenkilometern gerast – da rettet einen nichts mehr", so der Richter. Der Baum habe das Auto quasi zerteilt, "da war zu viel Energie, zu viel Geschwindigkeit". Ein »schicksalhafter Moment« habe zum Ergebnis geführt, dass ein Fahrzeuginsasse tot ist, die beiden anderen schwer verletzt waren.
Und der Fahrer werde mit seinem schlechten Gewissen »sein Leben lang daran zu knabbern haben«, sagte Niederhöfer. An den Unfall könne er sich nicht mehr erinnern, sagte der Angeklagte. Seine Freunde und er hätten den ganzen Tag gegrillt, seien fröhlich gewesen, gegen Mitternacht wollte der Fahrer einen Freund nach Grabenstetten bringen. Nachdem er ihn abgesetzt hatte, ging es zurück in Richtung Bad Urach. Mit dem bekannten Ergebnis.
Alle Autoinsassen hätten sich seit der fünften Klasse gekannt, sie seien befreundet gewesen. Er habe doch nur die Absicht gehabt, den anderen Freund nach Hause zu bringen, beteuerte der junge Mann. Danach brach er in Tränen aus, suchte verzweifelt nach Worten, »es tut mir so unendlich leid«, brachte er noch hervor. Auch die Eltern des Verstorbenen und die Mutter des Angeklagten rangen im Gerichtssaal mit den Tränen, bevor Richter Hamann dann das Urteil verkündete.
Der 19-Jährige sei der fahrlässigen Tötung schuldig, die Strafe laute »sechs Monate Haft auf Bewährung«. Zusätzlich werde ihm zur Auflage gemacht, eine Ausbildung zum Ersthelfer zu absolvieren, »als Teil der Sühne«, so Hamann. Weiterhin müsse der Verurteilte ein Fahrsicherheitstraining machen.
Und – wenn die Eltern des Verstorbenen das wollen – einen Täter-Opfer-Ausgleich unter der Mithilfe des Vereins Hilfe zur Selbsthilfe anstreben. Der Angeklagte hatte schon versucht, mit den Eltern des verstorbenen Freundes zu sprechen, er wäre auch gerne zur Beerdigung gekommen. Doch die Eltern hatten verständlicherweise abgelehnt. Vater und Mutter des Verstorbenen müssten dieses Angebot nicht annehmen, sagte Hamann. Aber es wäre eine Möglichkeit für alle Seiten, »gemeinsam Frieden zu finden«, so der Richter.
Einen Führerscheinentzug sei nicht sinnvoll, sagte Hamann. Der Angeklagte tue sich eh schon schwer, nach diesem Unfall überhaupt noch Auto zu fahren. »Ich bin seit vergangenen Mai kaum noch gefahren«, sagte der junge Mann. Die Mutter bestätigte, dass er allein gar nicht mehr fahren wolle.
Und ein Poser, der sein Auto zusätzlich aufgemotzt hatte, sei der Angeklagte auch nicht gewesen, bestätigte der Sachverständige. Nichts habe an dem Fahrzeug darauf hingewiesen. Was bleibt: Völlig jugendtypisch sei der junge Mann viel zu schnell gerast. Er hat sich selbst überschätzt und dabei »den schwersten denkbaren Fehler als Autofahrer gemacht«, so der Richter. (GEA)