GRAFENBERG/GROßBETTLINGEN. Es ist ein Balanceakt. Ganz am rechten Rand der B313 kämpfen sich ein Fahrradfahrer ohne und einer mit Motor die lange Rampe hoch. Einen Kilometer geht es vom Abzweig Tischardt bis zum Kreisel bei Grafenberg. Das ist kein Spaß. Der auffällig orange gekleidete Radler kriecht mit Tempo 7 aufwärts. Hinter ihm stauen sich Autos und Lastwagen, die wegen Gegenverkehrs nicht überholen können. Der im gedeckten Blau gehaltene Pedelecfahrer ist mit Tempo 18 flüssiger unterwegs, wird aber von einem Kleinwagen angehupt, von einem Kompakten mit einem guten halben Meter Abstand überholt und hat einen Brummi im Nacken. Lärm und Abgase sind die Beigaben für beide.
Warum tun die zwei Radfahrer sich das an? Weil sie keinen eigenen Weg finden. Zwischen Tischardt, zu Frickenhausen und dem Kreis Esslingen gehörig, und Grafenberg klafft eine Lücke im überörtlichen Radnetz. Wer von Metzingen ins rund zwölf Kilometer entfernte Nürtingen will, muss über Riederich, Bempflingen und durchs Neckartal, will er oder sie durchgehend ruhige und sichere Wege befahren. Oder sich durch ganz Grafenberg und über Feldwege nach Großbettlingen durchtasten, bestenfalls vom Navi geleitet. Vom Abzweig Tischardt bis Großbettlingen führt dagegen ein nagelneuer, 2,6 Kilometer langer Radweg an der Bundesstraße entlang. Directement und auffällig.
Neuer Weg im Nachbarlandkreis
Den hat das Regierungspräsidium Stuttgart mit viel Aufwand 2024 und 2025 für rund 4,7 Millionen Euro unter halbseitiger Sperrung der Bundesstraße bauen lassen. Das Land hat die Planungskosten von 400.000 Euro übernommen, die Gemeinde Großbettlingen einen der drei Abschnitte mitgeplant und -gebaut. Miteinander geht's. Dem Wald und der früheren Böschung hat man ein Stück abgetrotzt, eine große Hangrutsch-Schutzwand gebaut, eine Überführung über den Bach Autmut, Wasserdurchlässe unter der B313 hindurch. Großbettlingen liegt im Landkreis Esslingen, keinen Kilometer weit vom Abzweig Tischardt entfernt. Der Weg dorthin und weiter nach Nürtingen scheint durch ein gelobtes Fahrradland zu führen.
In der Gegenrichtung liegt radverkehrliches Entwicklungsland. »Willkommen im Landkreis Reutlingen«, grüßt das Schild mit dem symbolträchtig stilisierten R. Fahrradfahrer dürften sich zumindest an diesem äußersten Punkt des Kreises wenig willkommen fühlen. Sie müssen auf der Bundesstraße mit zahllosen Autos und Lkw vorliebnehmen. Zur längeren Alternative durch Wald und Felder leiten keine Schilder. Ein direkter Radweg parallel zur Straße fehlt hier. Noch.
Zuständig für seinen Bau und damit den Lückenschluss zwischen Metzingen. Grafenberg und Nürtingen wäre wieder ein Regierungspräsidium im Auftrag des Bundes. Diesmal aber das in Tübingen. Es ist noch nicht so weit wie die Stuttgarter Kollegen, die schon Vollzug melden können und den neuen Radweg Ende Juli zusammen mit den örtlichen Bürgermeistern mit einer Beradelung eingeweiht haben. »Aktuell werden verschiedene Radweg-Varianten untersucht«, informiert André Nagel aus der Pressestelle des RP Tübingen, »dazu haben bereits erste Abstimmungen mit den Gemeinden Grafenberg und Frickenhausen sowie den Landratsämtern Reutlingen und Esslingen stattgefunden.«
Das Vorhaben löse »mehrere naturschutzfachliche Betroffenheiten« aus, die untersucht werden müssten. Der noch radweglose Teil der B313 zwischen den Landkreisen Reutlingen und Esslingen führt durch ein Waldgebiet. Wären hier Fauna und Flora durch einen schlanken neuen Radweg erheblich mehr beeinträchtigt als sie es durch die stark befahrene Bundesstraße bereits sind? Jedenfalls wurde, teilt Nagel weiter mit, im Herbst mit den dafür notwendigen Untersuchungen und Gutachten begonnen. »Im Anschluss erfolgt die Festlegung der Vorzugstrasse und darauf aufbauend deren planerische Konkretisierung von der Entwurfs- zur Ausführungsplanung.«
Trassen werden verglichen
Während der die sogenannten Träger öffentlicher Belange zu beteiligen sind, etwa Kommunen, Umweltverbände oder Fahrradorganisationen. Alles zusammengenommen klingt das noch nach einem längeren bürokratischen Prozess. »Aufgrund der noch nicht abgeschlossenen Variantenuntersuchung und den weiteren Projektschritten kann zum jetzigen Zeitpunkt noch keine konkrete Aussage über die bauliche Umsetzung sowie den daraus resultierenden verkehrlichen Beeinträchtigungen getroffen werden«, sagt der RP-Pressereferent denn auch.
Bekannt ist die Lücke im regionalen Radwegenetz indes seit etlichen Jahren. Der GEA hat mehrfach darüber berichtet, auch im Oktober 2020. »Es gibt noch keinen Trassenfavoriten«, hat RP-Sprecherin Katrin Rochner damals gesagt, »der Radweg liegt in der Priorität nicht weit oben.« Aber: »Wir sind im Austausch mit den Stuttgarter Kollegen.« Damals hieß es, mittelfristig sei der Lückenschluss zu erwarten.
Zauneidechsen und Gelbbauchunken willkommen
Die Priorität scheint sich geändert zu haben, will die öffentliche Hand doch immer mehr die alternativen, umweltfreundlichen Verkehrsmittel fördern und knüpft deshalb überörtliche Radnetze. Das RP Stuttgart hat vor dem Bau des Radwegs zwischen Tischardt und Großbettlingen auch einiges für den Naturschutz getan: Lebensräume für Zauneidechsen sind entstanden, Kleingewässer bieten Grasfröschen und Gelbbauchunken Rückzugsräume, Nistkästen Brutplätze für heimische Vogelarten. Als Ausgleich für Rodungen wurde schon vor einigen Jahren eine neue Waldfläche angepflanzt.
Jetzt lässt sich parallel zur B313 im Landkreis Esslingen mit oder ohne Motor ganz entspannt radeln, abgesichert durch Anhöhen, Lärmschutzwände und Schutzplanken, mit Blick auf die Autos und Brummis, die auf der parallel verlaufenden Bundesstraße fahren. Das RP Tübingen kann auf dem noch lückenhaften Teilstück im Kreis Reutlingen nachziehen und ähnlich bequeme Verhältnisse für Radfahrer schaffen. (GEA)


