PLIEZHAUSEN. »Ich hab ja ne gute Hilfe«, sagt Hilde Belke. Vom Sessel zum Tisch geht die älteste Pliezhäuserin aber schon noch selbst. Ohne Arm und ohne den bereitstehenden Rollator. Hundert Jahre wird die gebürtige Sauerländerin am Freitag, 7. März. Seit sechs Jahren lebt sie im Haus ihrer Tochter Christa Farien und von deren Mann Uwe Farien. Vor allem die 58-jährige Tochter ist die gute Hilfe, von der die Hochbetagte gerne spricht. Christa Farien ist ganz zu Hause, ihr Mann arbeitet zwei bis drei Tage die Woche im Homeoffice. Ein wahres Dreamteam ist da am Werk.
Hilfe hat die Hochbetagte bis heute nur begrenzt nötig. Ihr »Gästezimmer« liegt im Obergeschoss des Reihenhauses. Hoch und runter kommt Hilde Belke nicht etwa mit dem Treppenlift, sondern zu Fuß. Wie sie sich überhaupt robuster Gesundheit erfreut, nur drei Medikamente nimmt. Nur die Augen und Ohren lassen unweigerlich nach, was das liebgewonnene Häkeln und Stricken erschwert. Und: »Ich kann meine Arztromanhefte nicht mehr lesen.« Die Geschichten um Dr. Norden hat sie geliebt. Der Fernseher gibt ihr nach wie vor viel. Musiksendungen und Nachrichten sieht sie. Mag Florian Silbereisen hören und bleibt am Weltgeschehen dran, ist geistig rege und beredt.
»Im Krieg habe ich abends Luftschutzdienst gemacht«
Die immer größer werdende Familie war es, die Hilde Belke zufrieden hat alt werden lassen. »Ich habe mich um die drei Kinder, vier Enkel und einen Urenkel gekümmert.« Alles begann nach der Heirat mit ihrem Gerhard am Ende des Zweiten Weltkriegs. Es war normal, dass Frauen nach der Hochzeit ihren Beruf aufgaben und Haus und Hof versorgten. »Wir hatten ein Grundstück mit Tieren.« Sie pflegte den Gemüsegarten und die Obstbäume, die die Familie miternährte. »Wenn's nicht mehr weiterging, wurde ich gerufen.« Damals, als sie noch Pferdewagen mit Baumstämmen vorbeziehen sah.
Als Jugendliche hat die am 7. März 1925 Geborene mehr Unruhe erlebt. Mit 14 begann sie eine Ausbildung fürs Büro, arbeitet in einem Rüstungsbetrieb. »Abends habe ich im Zweiten Weltkrieg Luftschutzdienst gemacht.« Am Telefon bekam sie mit, wo und wann Kriegsflugzeuge herkommen und wo Bomben einschlagen könnten, und gab die Infos weiter. Belkes Familie hatte Glück: Ihr eher ländlicher Wohnort Menden bei Iserlohn blieb von größeren Schäden verschont. »Bei uns ging es noch, Dortmund hat es schlimmer erwischt.«
»Mit 74 hätte sie einen Platz im betreuten Wohnen bekommen. Mit 95 nicht mehr«
Ihr späterer Mann Gerhard war Busfahrer. Sie hat ihn am Ende der Schreckensjahre kennen und lieben gelernt. Er fuhr einen Sonderbus zu einer Aufführung von Bachs Matthäus-Passion. Beide stiegen aus - und kamen ins Gespräch. »Kann ich wohl mit in die Kirche gehen?«, fragte er. Er durfte. 1945 haben die beiden geheiratet. Doch ein Jahr vor der Silbernen Hochzeit starb Gerhard Belke 1969 nach einem Herzinfarkt mit gerade mal 57 Jahren. Es kam nie mehr ein anderer an Hilde Belkes Seite. Auch ihren Sohn hat sie bereits zu Grabe tragen müssen. Das war 2019, vor Beginn der Corona-Pandemie. Er hatte sich in Menden rührend um seine Mutter gekümmert.
Das tut jetzt Tochter Christa Farien, die mit ihrem Mann Uwe schon seit rund 19 Jahren in Pliezhausen wohnt. Die Mutter konnte alleine nicht mehr im Sauerland leben. »Wir haben nach einem Platz im betreuten Wohnen gesucht«, blickt Farien zurück, »aber da hieß es, wenn sie 74 gewesen wäre, hätte sie einen bekommen können.« Mit 94 nicht mehr.
»In der Coronazeit sind wir zu einer WG geworden«
Das Virus drängte das öffentliche Leben zurück. Das Ehepaar heckte einen Plan B aus und zog die vitale Seniorin in ihr eigenes Haus um. Wo Hilde Belke keineswegs nur im Sessel sitzt und darauf wartet, dass das vor ihr auf dem Rollator liegende Handy klingelt. Sie faltet Wäsche, putzt Gemüse, räumt die Spülmaschine ein und aus. »Das liebt sie«, sagt Christa Farien, »sie hatte selbst keinen Geschirrspüler.« Selbstständig geht sie ins Bett und steht wieder auf. Hilfe auch von Profis braucht die Hundertjährige bei der Körperpflege und am Frühstückstisch. »Das Bütterchen schneiden wir ihr klein.«
Christa Farien kann ihrer Mutter Hilde Belke, die Jahrzehnte so viel für die Familie getan hat, jetzt etwas zurückgeben. »In der Coronazeit sind wir zu einer WG geworden«, sagt Farien. Die familiäre Einbindung in ihrem ganzen Leben hat maßgeblich dafür gesorgt, dass Hilde Belke so alt werden durfte. Ein geregelter Tagesablauf mit drei festen Mahlzeiten tut Dasseine. »Ich stehe um sieben Uhr auf.«
»Ich hab den Kopf nie hängen lassen. Es ging immer weiter«
Ihre positive Einstellung und große innere Stärke war die dritte Voraussetzung. »Ich hab den Kopf nie hängen lassen«, sagt Pliezhausens älteste Einwohnerin, »es ging immer weiter.« Aufgeben galt nicht. »Manchmal gab es Stunden, die schlecht waren. Dann hab ich mich wieder aufgerappelt.«
Alles Grund genug für die Mehrgenerationen-WG, am Freitag Hilde Belkes 100. Geburtstag zu feiern. Im kleinen Kreis zu Hause bei Kaffee und Kuchen mit ein paar Verwandten und Bekannten. Denn einige Freundinnen hat die Jubilarin noch immer. (GEA)