WANNWEIL. »Wir bedauern es alle!« sagt Beate Hölscher. Unter dem Motto »Der letzte Tanz« öffnete am Sonntag die zehnköpfige Ateliergemeinschaft in der Alten Spinnerei in Wannweil zum letzten Mal die Türen. »Jetzt muss ich hin, sonst ist es vorbei«, brachte es Eva, ein Gast aus Tübingen auf den Punkt.
1990 wurden im 1868 errichteten Gebäude die ersten Künstlerateliers eingerichtet. Beate Hölscher war von Anfang an dabei. »Wir wissen es ja schon lange, dass wir das Gebäude verlassen müssen«, sagte sie. Die Reutlinger Fiedler Gewerbeimmobilien GmbH hat den Komplex erworben und verwirklicht darin ein eigenes Projekt (wir berichteten). Der Künstlergemeinschaft stellte Fiedler ein neues Gebäude, kurz »Himmelreich« genannt, in Tübingen-Lustnau zur Verfügung.
Ölbilder und Passepartouts verschenkt
Dafür sind die Kunstschaffenden sehr dankbar, vier von zehn werden dorthin umziehen. Beate Hölscher ist jedoch nicht mit dabei, sie wird sich in ihrem Haus ein Atelier einrichten. Als ihr letztes Bild im alten Domizil entstand »Weiß in Weiß«: »Ich habe ein aufgeklebtes Leporellobild von seiner Unterlage abgerissen. Übrig blieben Relikte, die spannend aussehen und genau zur Situation passen.«
In 35 Jahren habe sich viel angesammelt, das jetzt wieder aus Schränken und Regalen zum Vorschein komme. »Es ist einfach zu viel« befand die Künstlerin und verschenkte am Sonntag Ölbilder, betitelt `Erinnerungsstücke´, und Passepartouts sowie Kunstbildbände. Damit Gäste einen Gruß eintragen können, hat sie ihr Gästebuch ausgelegt. Auch dort waren zufällig nur noch die letzten beiden Seiten frei.
Atmosphäre einmalig
Vorbei an einem Waschbecken im Flur, das zugedeckt ist, weil das Wasser bereits abgestellt wurde, ging es zu Gerhard Feuchter. Er war erst zweieinhalb Jahre in Wannweil und trotzdem ist ihm die besondere Architektur ans Herz gewachsen. »Es ist großes Pech, das wir hier raus müssen«, sagte er. »Der Raum war sehr praktisch für meine Arbeiten.« Diese standen zum Verkauf und mit ihnen eine alte Blumenbank sowie ein Ohrensessel von 1825.
»Durch den Umzug findet man Sachen aus vielen Jahrzehnten wieder, die gar nicht mehr präsent waren«, berichtet Doris Lidwina Stauss. Sie möchte fortan zuhause arbeiten. »Doch es hatte seine Vorteile, für die Kunst den Ort zu wechseln. Hier im Atelier bekam man Abstand vom Alltag.« Da sie auch auf dem Dachboden noch viele Objekte und Zeichnungen eingelagert hatte, mietete sie einen Lagerraum. Die Künstlerin hofft sehr, dass die Ateliergemeinschaft weiterhin Kontakt hält. »Wir haben so viele tolle Veranstaltungen, Ausstellungen und Feste, zusammen gemacht.«
»Der leichte helle Raum passte wie die Faust aufs Auge zu meinen Objekten«, so Barbara Wünsche-Kehle. »Die Atmosphäre hier mit den alten Holzsäulen und Fenstern ist einmalig.« Doch erstmal wolle man zusammen feiern, dass man überhaupt so viele Jahre die Alte Spinnerei habe nutzen dürfen. In ihrem Atelier war Susanne Immer zu Gast, die ebenfalls mehrere Jahre zur Ateliergemeinschaft gehörte. »Es war so einfach: Wenn ich mit einem Bild nicht weiterkam, ging ich einfach nach nebenan und fragte eine Kollegin«, erinnert sie sich. Barbara Wünsche-Kehle denkt gerne zurück an eine Zeit, in der oft ehemalige Angestellte herkamen, von Pferdefuhrwerken erzählten oder in welchem Raum sie gesessen und Büroarbeit erledigt hatten. »Das historische Gebäude hat mich inspiriert«, betont sie.
Markus Tränkner stellte Holzdrucktechnik aus. »Druckstöcke und andere schwere Sachen habe ich schon nach Tübingen ins Himmelreich geschafft«, berichtet er. Seit 2009 war er in Wannweil, den Auszug bedauert auch er. »Doch die neuen Räume liegen am Tor zum Schönbuch. Es steht eine kleine Bank dort, es hat auch seine guten Seiten.« Künstlerkollege Leo Staigle zieht ebenfalls mit seinem Atelier nach Tübingen um. Auch Eva Schulz ist dankbar für die neuen Räume. »Ich brauche viel Platz für meine Skulpturen. Ein Atelier zu finden ist gar nicht so einfach.« Die Atmosphäre in den neuen Räumen aus den 1970er-Jahren müsse man erst schaffen. »Aber das kriegen wir hin.«
Ein Neuanfang mit neuen Leuten
Ingrid Swoboda bot ihre gesamten Werke aus der »Rotphase« zum Verkauf an. »Wenn man umzieht, überlegt man gut, was man noch mitnimmt.« Der Umzug fordere auch Abschiednehmen und Entscheidungen. In Tübingen beginne eine neue Phase. »Es gibt einen Neuanfang mit neuen Leuten.«
Für Lisa Voss hat sich seit Dezember, als sie einen Schlaganfall erlitt und seitdem den Rollstuhl benötigt, die ganze Lebenssituation verändert. »Ich wäre auch gerne hiergeblieben, doch weder das alte noch das neue Atelier sind barrierefrei.« Zusammen mit ihrer Tochter Claudia Di Gennaro ist sie dabei, für vieles neue Lösungen zu finden. Doch auf jeden Fall möchte sie weiter künstlerisch tätig bleiben. Aktuell sind Kreise ihr Thema, für das sie auch Fragmente älterer Arbeiten verwendet.