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Missbrauch von Stieftochter: Mann in Tübingen verurteilt

Die Staatsanwältin hatte ein Jahr mehr gefordert. Der Angeklagte will in Revision gehen.

Das Landgericht veraurteilte einen 54-Jährigen wegen sexuellem Missbrauch eines Kinds zu sechs Jahren Haft.
Das Landgericht veraurteilte einen 54-Jährigen wegen sexuellem Missbrauch eines Kinds zu sechs Jahren Haft. Foto: Foto: Norbert Leister
Das Landgericht veraurteilte einen 54-Jährigen wegen sexuellem Missbrauch eines Kinds zu sechs Jahren Haft.
Foto: Foto: Norbert Leister

TÜBINGEN. »Ein aufwühlendes und für alle Beteiligten belastendes Verfahren ist heute zu Ende gegangen«, sagte Armin Ernst, Vorsitzender Richter der ersten Strafkammer am Landgericht Tübingen, ehe er sein Urteil begründete. Das Gericht kam zu der Auffassung, dass der heute 54-jährige Angeklagte seine Stieftochter in 14 Fällen sexuell missbraucht habe. Die Familie wohnte seinerzeit in Metzingen. Das Mädchen war zu den Tatzeiten zwischen acht und zehn Jahre alt.

Die Erforschung der Wahrheit, so der Vorsitzende Richter, seien durch mehrere Faktoren erschwert gewesen: Die Taten liegen einige Jahre zurück und wurden erst lange nach den Tatzeiten angezeigt. Dazu stand Aussage gegen Aussage, das machte der Angeklagte nicht zuletzt in seinem Schlusswort deutlich. Schließlich, wie es bei Sexualstraftaten oft der Fall sei, gab es keine Beweismittel und nur eine Zeugin – das Opfer.

Bei Sexualstraftaten gibt es oft keine Zeugen und keine Beweismittel

Ein vom Verteidiger des Angeklagten eingefordertes aussage-psychologisches Gutachten lehnte die Kammer ab und berief sich dabei darauf, dass keine besonderen Umstände erkennbar seien, um Sachverständigen-Hilfe herbeizuziehen. Ernst betonte: »Wir sind nicht mit dem Bauchgefühl zu Werke gegangen. Der Bundesgerichtshof gibt vor, wie wir vorzugehen haben.«

Die Kammer prüfte fünf Punkte, um herauszufinden, ob die Aussagen der Opferzeugin auf eigenem Erleben beruhten. Zunächst die Aussagetüchtigkeit: Sie sei in der Lage gewesen, viel über die Familie, ihre Therapiestunden und Erlebnisse, die verifiziert werden konnten, zu berichten. Dies wertete die Kammer als starkes Indiz dafür, dass sich die Taten so zugetragen haben.

Der Bundesgerichtshof gibt fünf Punkte vor, um Aussagen zu testen

Die Kammer prüfte und verneinte ein Falschbelastungsmotiv, das der Verteidiger ins Feld geführt hatte, um die Mutter der Opferzeugin zu belasten und seinen Mandanten zu entlasten. In einem Sorgerechtsstreit hätte die Opferzeugin ein solches Motiv gehabt. Dagegen sprachen der Zeitpunkt und die Entstehung der Vorwürfe, nämlich nach einem Streit zwischen der Mutter und dem Angeklagten.

Danach hatte sich die Opferzeugin ihrer Mutter gegenüber offenbart. Beide schilderten die Reaktion des Angeklagten darauf detailliert. Etwas später schilderte sie die Vorgänge gegenüber ihrer Therapeutin und einer Freundin. Erst Jahre später ging das Mädchen zum Jugendamt, das auf die Aussagen des Mädchens, jedoch nicht reagiert habe, wie Richter Ernst anmerkte.

Das Gericht prüfte Tüchtigkeit, Entstehung, Konstanz, Qualität und Motive

Des Weiteren ging es der Kammer um die Aussagekonstanz: Je detaillierter und umfangreicher die Aussagen seien, desto schwieriger ließe sich eine Lügengeschichte aufrechterhalten, so Richter Ernst. In diesem Fall stellte die Kammer wenig Widersprüchliches fest. Zuletzt überprüfte die Kammer die Aussagequalität. Wichtig war die Erinnerung an die Taten, vor allem an die erste in dieser Serie.

Die Opferzeugin, so Richter Ernst, wirkte aufgrund ihrer detaillierten Schilderungen der Tathergänge glaubwürdig, nicht zuletzt ihrer Darstellung eines Erlebnisses: Sie hatte Angst vor einem ihrer Lehrer an der Schule, weil dieser ihrem Stiefvater ähnelte.

Der Mann gestand die Taten nicht

Die Staatsanwaltschaft hatte den Mann für eine höhere Zahl an Taten angeklagt. Für die Kammer waren nur Indizien für 14 Fälle vorhanden. Danach reichten die Vergehen des Mannes an seiner Stieftochter vom Streicheln des Intimbereichs über das Eindringen in die Scheide des Kindes mit den Fingern, über gegenseitige manuelle und orale Befriedigung mit Samenerguss des Mannes bis zu zwei Fällen von versuchtem Sexualverkehr. Beide Male gelang es dem Kind, der Situation zu entkommen.

Weil der Mann die Taten nicht gestand, kam die Kammer auch nicht zum Ergebnis, dass es sich hier um einen minderschweren Fall handeln könnte. Oberstaatsanwältin Rotraud Hölscher erwirkte nach Verkündung des Urteils einen Haftbefehl gegen den Mann: Weil dieser einen bestehenden Arbeitsvertrag in den Vereinigten Staaten habe, bestehe Fluchtgefahr. (GEA)

Im Gerichtssaal: Armin Ernst (Vorsitzender Richter), Julia Merkle. Schöffen: Christoph Beck, Barbara Keppler. Staatsanwaltschaft: Rotraud Hölscher. Verteidiger: Michael Erath. Nebenklagevertreterin: Marie-Luise Dumoulin. (GEA)