KREIS REUTLINGEN. Nach dem Abitur ein Jahr Pause einlegen, voller Neugierde ins Ausland starten oder mit dem Studium beginnen. Die Möglichkeiten sind vielfältig. Moment mal – da war doch noch etwas anderes. Denkt vielleicht jemand auch über eine Ausbildung nach? Na klar. Vier Abiturienten erzählen, weshalb sie einen Ausbildungsvertrag unterschrieben haben und seit ein paar Wochen voller Tatendrang erste Erfahrungen in ihrem zukünftigen Job sammeln.
Luca Harder wollte eigentlich Lehrer werden. So gesehen ein positives Vorhaben, denn Lehrkräfte sind schon seit vielen Jahren Mangelware. Drei Semester hat der junge Mann aus Tuttlingen in Tübingen auf Lehramt studiert. Es habe ihm Spaß gemacht, obwohl er täglich von seinem Heimatort in die Unistadt am Neckar pendeln musste – eine bezahlbare Unterkunft war dort nicht zu finden. Um sein Studium zu finanzieren, arbeitete der 21-Jährige auch noch nebenher. Doch irgendwann ging es nicht mehr. Lernen, pendeln, jobben – der Stress und die Belastung wurden zu groß.
Während dieser anstrengenden Zeit lernte er seine jetzige Freundin kennen, die ihn sehr unterstützte. Schnell wurde den beiden klar, dass sie zusammenziehen wollen. Gesagt, getan. Luca Harder packte seinen Koffer und zog bei seiner Freundin in Reutlingen ein. Und kam zu dem Schluss, das Studium aufzugeben, um sich sowohl finanziell als auch beruflich eine neue Basis aufzubauen. »Als Jugendlicher hatte ich in einer Nissan-Vertragswerkstatt ausgeholfen. Das machte mir immer Spaß. Deshalb war für mich schnell klar, Automobilkaufmann ist mein Ding«, erzählt der Neu-Azubi. Die Zusage des Autohauses Wurst in Reutlingen hatte er schnell in der Tasche und ist heute mehr als glücklich, dass er dort arbeiten darf. »Ich fühle mich hier sehr gut aufgehoben und werde überall hervorragend eingebunden. Und Weiterbildungsmöglichkeiten, die auch von der Firma gefördert werden, gibt es nach dem Abschluss meiner Ausbildung mehr als genug«, so Harder weiter.
»Als Jugendlicher habe ich in einer Vertragswerkstatt ausgeholfen«
Eine Ausbildung zur Zimmerin und ein Holzbau-Projektmanagement-Studium zeitgleich – das soll funktionieren? Ja, und Jana Erb ist bereits mittendrin. Nach dem Abitur am Technischen Gymnasium in Ulm und einem anschließenden Freiwilligen Ökologischen Jahr auf einem Bauernhof war für die junge Frau aus Heroldstatt schnell klar, ihr zukünftiger Beruf müsse Natur und etwas Handwerkliches miteinander verbinden. Und sie wurde fündig. Das »Biberacher Modell« des Bildungszentrums Holzbau in Biberach an der Riß kombiniert Ausbildung und Studium. Nach fünf Jahren wird Jana Erb bei erfolgreichem Abschluss nicht nur den Zimmerer-Gesellenbrief in der Tasche haben, sondern gleichzeitig auch den Meisterbrief – hierfür muss sie allerdings eine zusätzliche Prüfung ablegen – sowie den akademischen Titel Bachelor of Engineering Holzbau-Projektmanagement/ Bauingenieurswesen. »Ich bin total glücklich mit meiner Wahl. Es ist einfach toll, dass hier Theorie und Praxis miteinander vereint werden und ich die handwerklichen Fertigkeiten von Grund auf lerne«, erzählt die 20-Jährige.
Den Praxisteil absolviert Erb bei Gekeler Holzbau in Römerstein. Sie fühle sich dort sehr wohl, auch wenn der Job herausfordernd sei. »Man muss schon anpacken können und darf auch vor Dreck oder Nässe nicht zurückschrecken«, erklärt sie. Auf jeden Fall könne sie ihre Berufswahl uneingeschränkt empfehlen, auch wenn in diesem Bereich das männliche Geschlecht bisher noch in der Überzahl sei. Sie sagt: »Mein Weg ist sozusagen vorgezeichnet. Nach meinem Abschluss kann ich mir gut vorstellen, als Bauleiterin zu arbeiten. Mit meiner handwerklichen Praxiserfahrung kann ich mich als Frau dann aber auch in der bislang männerdominierten Welt des Handwerks hoffentlich gut durchsetzen.«
Nach dem Abitur für mehrere Monate einen Roadtrip in die USA und nach Mexiko zu machen – für viele junge Menschen ein Traum. Cilia Hörmann hat sich diesen Wunsch erfüllt. Zusammen mit einer Freundin bereiste sie den fernen Kontinent, erlebte viel und nutzte diese Zeit auch intensiv, um ihre englischen Sprachkenntnisse aufzubessern. Vor der Reise jobbte die 20-Jährige aus Pfullingen, um Geld zu verdienen. Aber auch um die ersten Schritte Richtung Selbstständigkeit zu wagen.
»Es ist einfach toll, dass hier Theorie und Praxis vereint werden«
Schon während der Schulendphase besuchte sie die Ausbildungsmesse der IHK Reutlingen und unterstützt durch den IHK-Ausbildungsatlas hatte die junge Frau ihr Ziel recht schnell im Blick: eine Ausbildung zur Kauffrau für Büromanagement – und zwar direkt bei der IHK Reutlingen. »Ich sehe eine Ausbildung für mich als die bessere Option. Dadurch lerne ich frühzeitig das richtige Berufsleben kennen und kann dadurch schon jetzt viele praktische Erfahrungen sammeln«, erzählt Cilia Hörmann.
Hilfreich sei auch die positive Einstellung des Elternhauses zum Thema Ausbildung gewesen. Beide Elternteile haben selbst einen Ausbildungsberuf abgeschlossen und stehen deshalb voll und ganz hinter der Berufswahl ihrer Tochter. Und diese fühlt sich pudelwohl bei der IHK. »Für alle neuen Azubis gab es zu Beginn ein umfangreiches Einführungsprogramm, das war toll. Außerdem werden wir hier gleich in viele Projekte mit eingebunden und bekommen eigene Aufgaben«, so Hörmann weiter. Eine davon ist die Organisation der Ausbildungsmesse im kommenden Jahr. »Letztes Jahr war ich dort noch als Schülerin und jetzt bin ich bereits Teil des Organisationsteams«, sagt sie und freut sich.
Solche Lebensläufe hört man nicht alle Tage: Abitur, freiwilliges soziales Jahr beim Deutschen Roten Kreuz, vier Semester Jura, Ausbildung zum Koch in einem Sternerestaurant mit Abschluss, jetzt Ausbildung zum Fleischer mit festem Willen, in diesem Bereich auch den Meister zu machen. Valerian Bodenhöfer hat ein klares Ziel vor Augen. »Mittelfristig könnte ich mir vorstellen mich selbständig zu machen, und zwar mit einem Restaurant mit angegliederter Metzgerei«, berichtet der 27-Jährige.
Und weshalb dann ein paar Semester Jura? Bodenhöfer lacht. »In der Schule war ich recht gut in den Gesellschaftswissenschaften und Jura hat mir dann auch großen Spaß gemacht. Nebenher jobbte ich aber noch in der Gastronomie und dort habe ich mein Faible für Lebensmittel entdeckt«, erzählt der junge Mann aus Sigmaringen. Er gab das Studium auf und absolvierte eine Lehre zum Koch. Während dieser Zeit begann seine Leidenschaft zu hochwertigen Fleischerzeugnissen. »Die Kombination Metzgerei und Restaurant bietet meines Erachtens die beste Möglichkeit, um auch in schwierigen Zeiten zu überleben«, sagt Bodenhöfer.
»Ein Meister kann besser verdienen als ein akademischer Master«
Für die Lehre bei der Albmetzgerei Failenschmid in St. Johann habe er sich entschlossen, da diese zu den besten Fachbetrieben in Deutschland gehöre. Außerdem würde dort wirklich großer Wert auf die Ausbildung gelegt, sogar eine eigene Lehrwerkstatt sei vorhanden. »Trotz der vermeintlichen Unattraktivität des Berufs habe ich mich für meine Leidenschaft und diesen Lehrberuf entschieden. Und eine Ausbildung ist in meinen Augen nicht ab- sondern aufzuwerten. Denn ein Meister kann manchmal besser verdienen als ein akademischer Master«, erklärt der junge Mann. (GEA)
NEUE AUSBILDUNGSVERHÄLTNISSE
Über die Jahre weniger Verträge. Männer deutlich in der Überzahl
Genau 2.117 neu abgeschlossene Ausbildungsverträge gab es zum Stichtag 1. September 2024 im IHK-Bezirk Reutlingen, 704 davon haben Frauen abgeschlossen, 1.412 Männer, eine Person war divers; 667 der Azubis haben das Abitur oder Fachabitur in der Tasche. Die Handwerkskammer Reutlingen zählte zum selben Zeitpunkt 1.727 neue Ausbildungsverhältnisse, 323 von Frauen, 1402 von Männern und zwei von diversen Personen belegt; 300 der angehenden Handwerker haben das Abi. Zum Vergleich: Stand 31. Dezember 2023 gab es im IHK-Bezirk Reutlingen 2.310 neue Azubi-Verträge und bei der Handwerkskammer 1.731 neue Azubi-Verträge. Zum 31. Dezember 2019 waren es 2.552 beziehungsweise 1.777 Verträge. Der IHK-Bezirk Reutlingen umfasst die Landkreise Reutlingen, Tübingen und Zollernalb, der Handwerkskammer-Bezirk zusätzlich die Kreise Sigmaringen und Freudenstadt. (tta)