DETTINGEN. Wie so oft ist er mit dem Zug angereist. Null Minuten Verspätung hat die Ermstalbahn an diesem Freitagvormittag. »Auch wenn alle sagen 'Des geht net', muss man's trotzdem machen«, findet Cem Özdemir. Auch dank ihm hält der modernisierte Elektrotriebzug der DB Regio im Bahnhof Dettingen-Gsaidt. Entsteigt der grüne Landesvater-Kandidat dem gelb-weißen Zug heute im blauen Anzug, hatte er Anfang der 1980er-Jahre eine blaue Schaffner-Uniform an.
Mit anderen Engagierten um den unermüdlichen Roland Hartl und Martin Uhlig blies er für den Erhalt der im Personenverkehr damals bereits stillgelegten Zehn-Kilometer-Stichstrecke: »Hauptbahnhof, bitte alle aussteigen«, rief Özdemir in seiner Heimatstadt Urach damals, und die unzähligen Fahrgäste folgten. Die Uniform stammte aus Irmgard Zechers Trödelstube in Metzingen.
»Damals ging es darum, dass überhaupt Gleise bleiben. Jetzt wird ein Traum wahr«
Am Freitag also Dettingen. »Da hat meine Mutter geschafft«, offenbart Özdemir, als er die Papierfabrik Munksjö erblickt. Diese hat der Verbindung Metzingen - Bad Urach genauso das Leben gerettet wie die Bürgerinitiative pro Erhalt der Ermstalbahn: Die Papierfabrik war und ist treue Kundin im Güterverkehr.
Wie die totgesagte Strecke quicklebendig wurde und auf dem Sprung zur Regional-Stadtbahn Neckar-Alb (RSB NA) ist, lässt sich der heimatverbundene Ex-Bundeslandwirtschaftsminister von Professor Dr. Tobias Bernecker erläutern, dem Geschäftsführer des Zweckverbands RSB NA: »Ab Dezember soll der Halbstundentakt auf der Ermstalbahn kommen und diese vom Stellwerk in Gsaidt gesteuert werden.« Vorher aber ein neues Stellwerk und in Metzingen entstehen und das vierte Gleis angeschlossen werden. Özdemir verteilt Küsschen an zwei Damen, bekommt eine Krawatte in rot-schwarzen Ermstalbahnfarben geschenkt und betritt das mit Elektronik gespickte Gebäude.
»Wir haben genügend Fahrdienstleiter, um den Betrieb im Ammertal und Ermstal zu steuern«
In dem herrscht bereits seit Ende 2022 Betrieb: Fahrdienstleiter steuern von hier aus Signale und Weichen auf der Ammertalbahn Tübingen - Herrenberg fern. »Wir haben sieben Fahrdienstleiter, sie arbeiten im Dreischichtbetrieb«, informiert Alina Thieß, Betriebsleiterin der RSBNA Erms-Neckar-Bahn Schieneninfrastruktur GmbH. Ein achter wird bis Dezember dazukommen. »Damit haben wir genug Personal, um beide Strecken zu steuern.« Das war lange ein Problem. Die Neulinge kommen oft von der großen DB, haben in Stuttgart gearbeitet. Dort geht es hektisch zu, im Ermstal beschaulich.

Testweise lässt ein Fahrdienstleiter an einem Monitor schon mal einen Zug durch Ermstal fahren: Die Bahn ist nichts als eine rote Linie auf einem Abschnitt zwischen zwei Signalen, einer sogenannten Fahrstraße. »Und wenn es Verspätungen gibt?«, fragt Özdemir. Dann wendet schon mal ein Zug vorzeitig im auf zwei Gleise erweiterten Bahnhof Gsaidt, antwortet Bernecker. Dort sollen sich ab Dezember Ermstalbahnen begegnen und auch in Metzingen. Dadurch wird der Halbstundentakt möglich.
Gut zwei Jahre weitergedacht, sollen die ersten Tram Trains der RSB NA als Linie S 6 Bad Urach mit Metzingen und Reutlingen verbinden, später nach Pfullingen weiterfahren: wenn denn der Reutlinger und der Pfullinger Gemeinderat mal einen Knopf an eine der Trassen durch ihre Städte machen. Wann das der Fall sein wird und die Gleise in den Städten betriebsbereit sind, vermag Fachmann Bernecker nur anzudeuten. Es liegt zuerst in der Macht der Kommunen, dann der Planer, des Zweckverbands, der Baufirmen.
Cem Özdemir und seine Parteifreundin Cindy Holmberg haben in Dettingen-Gsaidt schon am Freitag einen Blick in die schöne neue Stadtbahnwelt geworfen: hinter VR-Brillen. »Was für ein toller Bahnhof«, ruft der Promi-Grüne aus. Geschenkt, dass in der Virtual Reality auch Rolltreppen zu sehen sind, die es im Gebiet der künftigen Regional-Stadtbahn an keinem Bahnhof gibt.
»Wenn ich von Berlin nach Stuttgart fahre und pünktlich sein möchte, nehme ich immer ein, zwei Züge früher«
Özdemir lobt den Wandel der Ermstalbahn: »Damals haben viele gesagt: 'Ihr mit eurem Glomp!' Jetzt wird ein Traum wahr. Manchmal muss man spinnen.« Es müssen nur genug Mitstreiter tun. Er kritisiert die rückständige Bundes-Bahnpolitik: »Wenn ich von Berlin nach Stuttgart fahre und pünktlich sein will, nehme ich immer ein, zwei Züge früher.« Das kann nicht jeder.
Der Grüne beschwört den Wert der öffentlichen Verkehrsmittel für den Klimaschutz und den Stadt-Land-Raum Neckar-Alb. »Die Bahn muss zu den Leuten kommen.« Und er macht ein wenig Wahlkampf. »Sollte ich am 8. März in die Verantwortung kommen, würde ich um die Verteilung der Bundesmittel nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz kämpfen.«
»Der Bau eines Betriebshofs für die Tram Trains in der Region ist das nächste Thema«
Nach knapp zwei Stunden geht der gebürtige Uracher und frühere GEA-Mitarbeiter Cem Özdemir mit seiner Kommunikations-Referentin Caroline Blarr wieder in Richtung Zug. Vorher hat er angekündigt, seine bisher anonymen ENAG-Aktien in Namens-Papiere umzutauschen. Das ist ein Muss für alle Anteilseigner der kleinen Bürger-Aktiengesellschaft, die nie an der Börse war, aber immer ein großes Ziel vor Augen hatte: die Wiederbelebung der Ermstalbahn.
Es ist in weiten Teilen gelungen. Der Rest folgt ab Dezember. »Der Bau eines Betriebshofs für die Tram Trains in der Region ist das nächste Thema,« blickt Tobias Bernecker voraus. Er reicht Cem Özdemir eine ein paar Zentimeter kleine Stadtbahn als Andenken, dann geht es für den Grünen weiter nach Göppingen. Wieder ist die Ermstalbahn pünktlich in Gsaidt. Geht doch. Zumindest im Kleinen. (GEA)