RÜBGARTEN. Laufschuhe, ein Rucksack, Wanderstöcke: Bereits seit der Antike begeben sich Pilger zu Fuß auf den Weg nach heiligen Stätten. Ihre Beweggründe für die weiten Reisen sind völlig unterschiedlich. Religiöse Motivationen, Abenteuerlust oder die Überwindung innerer Blockaden sind nur einzelne Beispiele. Für einige der prädestinierten Zielorte entstanden im Laufe der Geschichte spezifische Pilgerwege. Zu den bekanntesten unter ihnen gehört der Jakobsweg, benannt nach Apostel Jakobus, dessen Grab sich an der Endstation des Wegs befindet: Santiago de Compostela im Nordwesten Spaniens. Der Sterneweg, wie die Route nach Galizien auch genannt wird, boomt derzeit: Laut Angaben der deutschen Jakobsweg-Zentrale nahmen über 499.000 Menschen weltweit die Reise im vergangenen Jahr auf sich. Rund 44 Prozent der Wallfahrer sind Spanier, die den Weg direkt vor ihrer Haustür haben. Doch auch Bewohner aus Pliezhausen und Rübgarten haben den Jakobsweg vor der Nase. Zu ihnen gehört Claudia Demel. Die Rübgartnerin kam 2015 in Santiago an, pilgerte ein weiteres Mal über den Via Francigena nach Rom und begibt sich nun auf ein drittes Abenteuer.
»Alleine gehen fühlt sich richtig an«
»Ich hörte von einer Pilgerin über den Jakobsweg im Dorf«, erzählt Demel heute. »Ich hab mir dann einen Rucksack und ein paar Schuhe gekauft und bin alleine los.« Alleine gehen - so ist es der 72-jährigen am liebsten. »Das fühlt sich einfach richtig an« und auf dem Jakobsweg treffe man ohnehin auf weitere Pilger oder lernt in Unterkünften die unterschiedlichsten Menschen kennen. Claudia Demel war zum Start ihrer Reise nach Santiago de Compostela im Jahr 2008 noch als Musiklehrerin tätig und musste den Weg etappenweise auf sich nehmen. Aufgrund ihres Berufs blieb nicht genügend Zeit, den Jakobsweg am Stück zu gehen, also reiste sie immer wieder zurück in die Heimat und setzte ihren Weg in den nächsten Ferien wieder fort.
Ihr Gepäck versucht die Rübgartnerin damals wie heute möglichst leicht zu halten: »In meinen Rucksack kommen Schlafsack, Regencape, Wechselklamotten, Verpflegung und natürlich Blasenpflaster«, erzählt sie mit einem breiten Grinsen. Insgesamt kommt Demel auf etwa sechs bis sieben Kilogramm auf dem Rücken, »aber jeder Pilger hat neben seinem Rucksack noch ein anderes Päckchen dabei.« Für die Pilgerin war »das Päckchen« auf ihrer ersten Reise die Geburt ihrer Enkeltochter, der sie den Weg nach Spanien widmete »und beim zweiten Mal wollte ich mir selbst beweisen, dass ich es kann.« Von Rübgarten aus lief Claudia Demel wieder über den Jakobsweg nach Genf, wo sich der Sterneweg mit dem Francigena-Weg, bekannt für die Pilgerreise des Erzbischofs von Canterbury im Jahr 990, kreuzt und zur Grabstätte der Aposteln Petrus und Paulus nach Rom führt.
»Das Einfache macht das Pilgern aus«
Die 2.000 Kilometer lange Reise in die Hauptstadt Italiens nahm Demel innerhalb von drei Monaten am Stück auf sich - ohne Rückreisen nach Deutschland und etwas spontaner: Ihren Schlafplatz für den nächsten Abend suchte sie sich oft auf dem Weg aus. Ob in einer Pilgerunterkunft, dem Boden einer Kirche oder der Wohnung einer gastfreundlichen Familie: Claudia Demel verbrachte schon in den unterschiedlichsten Räumlichkeiten ihre Nächte. »Ich möchte Begegnungen, Menschen kennenlernen ... daher schließe ich Hotels oder Ferienwohnungen aus«, erklärt sie. Dabei gehe es nicht darum Geld zu sparen, sondern »einfach« zu leben. »Das Einfache«, so Demel, »das macht das Pilgern für mich aus.« Bei ihren Begegnungen auf der Suche nach Schlafplätzen entstanden Freundschaften fürs Leben. Die Rübgartnerin erinnert sich an ein Zusammentreffen mit einer amerikanische Frau in der Schweiz, »die mir mit ihrem charmantem Deutsch sagte: Ich glaube, ich kenne dich! Ich habe mal bei dir geschlafen!«. Demel selbst nimmt nämlich mit ihrem Ehemann Pilger, die durch Rübgarten kommen, auf. »Das sind ungefähr fünf bis sechs Menschen pro Jahr«, erzählt sie. Mit Gästen wie der Frau aus den Staaten pflegt sie bis heute noch eine Freundschaft.
»Was mach ich hier eigentlich?«
Wenn Claudia Demel von ihren Pilgerreisen erzählt, kommt sie ins Schwärmen. Sie blättert durch ein Bilderbuch, erzählt Anekdoten von Reisenden aus der ganzen Welt oder der Natur, die sie auf den Wegen zu sehen bekam. Dennoch gab es auch schwierige Momente für die Rübgärtnerin: »Auf dem Weg nach Rom habe ich mal im Stall über Kühen übernachtet«, erzählt sie, »dort ist dann die ganze Nacht die Milchkühlmaschine angesprungen, und ich konnte kein Auge zudrücken.« Am nächsten Tag war die Motivation entsprechend niedrig. »Ich bin raus und dachte mir: Was mach ich hier eigentlich?« Zu Demels Glück konnte sie sich auf die vielen Bekanntschaften ihrer Reisen, mit denen sie über einer gemeinsamen WhatsApp-Gruppe in Kontakt ist, verlassen: »Die haben mich dann aufgemuntert und motiviert.«
Neben weiteren Pilgeren bietet auch die Musik einen Rückhalt für Claudia Demel. Auf ihren Reisen ist ihre Flöte stets ein treuer Begleiter und sorgte bereits für einiges an Aufmerksamkeit, erzählt die Musiklehrerin im Ruhestand: »Ich stand einmal in Frankreich ganz alleine barfuß vor dem Altar in einer Kirche und habe angefangen zu spielen. Als ich mich dann wieder umdrehte, war die Kirche voll. Die haben alle ruhig gelauscht.« Unter Pilgern hatte sich »die Frau, die barfuß Flöte spielt« dann immer weiter rumgesprochen. Eine Geschichte, die Demel heute immer noch zum Strahlen bringt.
»Jerusalem ist ein Magnet für mich«
Ihre Pilgerreisen sollen aber nicht nur eine Erinnerung bleiben - die Abenteuerlust von Claudia Demel ist noch nicht verblasst. Sie begibt sich noch einmal mit einem ganz besonderen Ziel auf den Weg: Jerusalem. »Ob ich das mit meinen 72 Jahre alten Beinen noch schaffe, weiß ich natürlich nicht«, gibt sie zu, »aber die Stadt ist ein Magnet für mich.« Dass Israel als Ziel zurzeit erst einmal Fragen aufwirft sei Demel durchaus bewusst, durch Gaza wird sie »selbstverständlich nicht reisen«, doch der Nahostkonflikt ist für die Pilgerin auch einer der zentralen Beweggründe ihrer Reise. Auf der Friedensmission, wie Demel sie selbst nennt, hat die Rübgärtnerin Kopien eines selbstverfassten Briefes an den Israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu bei ihrem Aufbruch im Sommer im Gepäck. »Nicht mit Anklagen«, erklärt sie, »sondern Fragen.« Ihre Schriften möchte sie auf ihrem Weg verteilen und »sollte das nur irgendjemand lesen und denkt darüber nach, hat das vielleicht schon etwas bewirkt.« Wo genau Demel ihre Spur hinterlassen möchte, lasse sie erst einmal auf sich zukommen. Die Ankunft sei noch zu weit in der Ferne und zu ungewiss. Die Ankunft am Ziel der Rübgärtnerin ist aber ein großer Wunsch und zunächst »beginnt jeder Pilgerweg mit dem ersten Schritt«. (GEA)

