DETTINGEN/REUTLINGEN. »Er ist nicht das Monster vom Ermstal«, war für Richter Eberhard Hausch klar, »mit ihm könnte man schon mal ein Bier trinken.« Wenn da nur die Alkoholsucht nicht wäre. Dazu noch Kokain und Beruhigungstabletten. Seit seiner Jugend ist der heute 34-jährige auf Drogen, seit dem 13. Lebensjahr trinkt und raucht er. Um den Stoff zu beschaffen, brauchte er Geld. Davon hatte er Anfang 2023 nicht mehr genug. Deshalb begann der damals in Dettingen Wohnende einzubrechen. In seiner Heimatgemeinde, in Metzingen, in Bad Urach. 39-mal binnen eines Jahres. Immer auf der Suche nach Geld oder anderen Wertsachen wie iPhones oder Tablets.
Am Metzinger Hallenbad warf er zweimal eine Scheibe ein, durchsuchte nicht nur Kassen, sondern auch Spinde von Personal, fand einen Schlüssel, fuhr mit dem Auto einer Angestellten davon und baute bei Grafenberg einen Unfall. Einen Führerschein hatte er nicht. In der Kapelle der St. Bonifatius-Kirche knackte er einen Opferstock, drang gewaltsam in ein Hotel, eine Kneipe und einen Kiosk im Uracher Kurgebiet ein, schlug im Dettinger Rathaus ein Fenster ein und durchsuchte das Bürgerbüro, warf Steine in Metzinger Restaurantscheiben und klaute drinnen Bediengeldtaschen, entwendete aus einem Metzinger Feinkostgeschäft bei Nacht und Nebel Zigaretten und Edelsalami, brach Wasch-Automaten in den Fachkliniken Hohenurach auf. Die Aufzählung ist bei Weitem nicht abschließend.
»Nach dem Tod meines Vaters bin ich in eine Depression gefallen«
»Er ging eher einfach strukturiert vor«, stellte das Schöffengericht am Amtsgericht Reutlingen unter Leitung von Eberhard Hausch, stellten aber auch Staatsanwalt Tobias Freudenberg, Pflichtverteidigerin Jule Kärcher und ein Polizeibeamter als Zeuge fest: noch eine Straftat und noch eine und noch eine - überall dort, wo der Italiener auch nur ein paar Euro vermutete, die ihm neue Drogen und neuen Alkohol beschaffen helfen hätten können. »Nach dem Tod meines Vaters 2023 bin ich in eine Depression gefallen«, ließ er von der ebenso beredten wie gerichtserfahrenen Dolmetscherin Ursula Bürkert simultan übersetzen. Aber auch die Sucht, die der 2021 zu einer Entzugstherapie nach Deutschland gekommene EU-Bürger zwischenzeitlich besser im Griff hatte, flammte neu auf.
»Ich möchte eine weitere Therapie machen und wieder arbeiten«, kündigte er vor Gericht an. Stand jetzt sieht es nicht gut aus bei ihm. »Ich habe alles verloren.« Seinen Arbeitsplatz bei einem Cousin und die Wohnung in Dettingen. Die Chance zur Kehrtwende folgt nach dem Gefängnis. Zu drei Jahren Haft hat das dreiköpfige Gericht den Angeklagten am Freitag verurteilt und lag damit auf einer Linie mit Staatsanwalt Tobias Freudenberg. Nach einem Jahr hinter Gittern - auf die die bereits halbjährige U-Haft angerechnet wird - könnte es in die Therapie gehen.
Der routinierte, ruhige Anklagevertreter hatte das Geschehen in seinem Plädoyer in fünf Minuten zusammengefasst. Für die Verlesung der zehn wesentlichen von 40 Seiten der Anklageschrift hatte es viermal so viel Zeit gebraucht. Auch die junge Verteidigerin, die von vornherein den Weg zum Kompromiss - Geständnis gegen moderate Sanktion - eingeschlagen hatte, hatte eine nicht mehr bewährungsfähige Strafe gefordert: zweieinhalb Jahre. Bis zu vier Jahre kann ein Schöffengericht verhängen.
Kärchers Mandant, der in Handschellen von zwei Justizbeamten in den Gerichtssaal geführt worden war, zeigte sich so kooperativ wie nur möglich. »Ich möchte mich bei allen Beteiligten entschuldigen und die Schäden wieder gutmachen.« Lag der Beutewert bei 6.277 Euro, ist an und in den heimgesuchten Gebäuden mit 28.400 Euro mehr als viermal so viel Schaden entstanden.
»Es gab Fingerabdrücke, DNA-Spuren und Blut am Tatort«
Und: »In der Bevölkerung im Ermstal ist durch die Einbruchsserie Unsicherheit entstanden«, machte Richter Hausch deutlich. Zwar kam der Täter dann, wenn keine anderen Menschen vor Ort waren, machte sich aber doch an Stellen zu schaffen, die mit Vertrauen und sozialem Leben zu tun haben: Kindergärten, dem Café in der Alten Schule in Dettingen oder dem dortigen Musikvereinsheim etwa.
An der Professionalität fehlte es dem Drogenabhängigen, wie der Polizist im Zeugenstand bestätigte. »Es gab Fingerabdrücke und DNA-Spuren.« Auch Blut blieb am Tatort kleben. Der Einbrecher hatte keine Latexhandschuhe getragen. Auf die Spur gekommen waren ihm die Ermittler, nachdem er einmal auf dem Metzinger Revier war und sie seinen Personalausweis kopiert hatten. An den wiederholt heimgesuchten Fachkliniken Hohenurach hatten die Beamten nach der ersten Tat in Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft eine Überwachungskamera installiert. Und siehe da: Bei der zweiten lieferte sie Bilder, die mit dem Ausweisfoto gut zusammenpassten. Bei einem Diebstahl wurde der Mann auf frischer Tat ertappt.
»Er würde auch bei der Müllabfuhr arbeiten «
Durch sein umfassendes Geständnis hat er den Prozess, der sonst 40 Zeugen-Aussagen erfordern hätte können, deutlich verkürzt - was das Gericht strafmildernd berücksichtigt hat. Strafschärfend: In Italien wurde er mehrfach einschlägig verurteilt, hat sich unter dem Suchtdruck aber in Deutschland nicht von weiteren Einbruchdiebstählen abhalten lassen. Jetzt soll das Vergangenheit sein. Den locker eingestreuten Satz des Gerichtsvorsitzenden, der Verurteilte könne eine schöne Pizzeria aufmachen, nahm dieser nicht auf, doch Anwältin Jule Kärcher machte klar, dass der Mann keine hohen Ansprüche hat: »Er würde auch zur Müllabfuhr gehen.« Straßenbauer zu werden, kann er sich ebenfalls vorstellen.
Hauptsache, er, der keinen weiterführenden Schulabschluss hat und bei Verwandten mal als Gärtner, mal als Solartechnik-Installationshelfer gearbeitet hat, kommt wieder in Lohn und Brot. Und Hauptsache, er kommt weg von den Drogen. Nach zwei Stunden ging er, begleitet von den beiden Justizbeamten, am Freitag wieder aus dem größten Reutlinger Gerichtssaal. Nach »einer Verhandlung, die alle glücklich gemacht hat«, wie Richter Hausch fand. Keine aufwendigen Fortsetzungsverhandlungstage dank des Geständnisses, durchweg angenehm kooperierende Prozessbeteiligte, Beruhigung bei den Ermstal-Einwohnern und eine gewisse Perspektive und ein erleichtertes Gewissen beim 34-Jährigen auf der Anklagebank: Ernst in den Saal gekommen, konnte er am Ende der Verhandlung wieder lächeln. (GEA)
Im Gerichtssaal
Vorsitzender Richter: Eberhard Hausch. Schöffen: Annette Jung, Diana Breymaier. Staatsanwalt: Tobias Freudenberg. Verteidigerin: Jule Kärcher. Dolmetscherin: Ursula Bürkert. (GEA)