METZINGEN-GLEMS. Ein einziges Mal waren die Rollos noch oben und die Türen auf: Am Tag der offenen Backstube am 30. November drängten sich die Schaulustigen und Wehmütigen vor dem großen Ofen genauso wie im kleinen Laden. Reiner und Ute Gönninger bekamen viel Lob für ihr Dasein und viel Bedauern für ihr Gehen mit. Denn am Tag darauf fiel die kleine Handwerksbäckerei an der Glemser Ortsdurchfahrt wieder in den Dornröschenschlaf. Aus dem wird sie kein Prinz mehr wachküssen. Nach über 150 Jahren bäckt bei Bäcker Gönninger niemand mehr.
Dafür werden die Einwohner aus Metzingens Tausend-Seelen-Teilort künftig voraussichtlich im Tante-M-Laden im Glemser Rathaus eine kleine Auswahl an frischem Brot, Brötchen und Brezeln kaufen können. Diese will sich die Ladenbetreiberin Sabine Schneider von einem Großbäcker liefern lassen, kündigte sie im Herbst an. Im Gespräch waren damals Mayer aus Kohlberg, der ohnehin eine Tour über Neuhausen nach Eningen fährt und in Glems Station machen könnte, und Beck aus Römerstein, der in Neuhausen eine Filiale betreibt.
»Ich genieße es, zwischen 7 und 8 Uhr aufzustehen. Früher hatte ich da schon dreiviertel meiner Arbeit gemacht «
»Sie ist weiter im Gespräch mit Bäckereien«, bestätigt der Glemser Ortsvorsteher Andreas Seiz jetzt auf GEA-Anfrage. Bisher gibt es im Tante-M-Laden nur abgepacktes Brot, Brötchen zum Aufbacken und Toastbrot. Und wie geht es bei Seiz selbst weiter? Neben Reiner Gönninger war er der einzige Bäckermeister in der Backstube in der Eninger Straße. »Ich möchte mich auf die Ämter als Ortsvorsteher, Gemeinderat und Kreisrat konzentrieren«, sagt der 61-Jährige, und: »Ich habe 45 Jahre gearbeitet - seit ich 15 war.« 37 Jahre allein in der Bäckerei Gönninger.
Wer dort einmal in Backstube oder im Ladenverkauf geschafft hat, weiß, dass es ein Knochenjob ist. »Ich habe 60-Stunden-, meine Frau 70-Stunden-Wochen«, hat Inhaber Reiner Gönninger vor knapp einem Jahr gegenüber dem GEA offengelegt. Seine Frau Ute hat mit drei abwechselnd verstärkenden 450-Euro-Kräften den Verkauf gestemmt. Lange Zeit sechs Tage die Woche von 6.30 bis 18.30 Uhr, zuletzt war montags geschlossen.
Reiner Gönninger und Andreas Seiz mussten noch viel früher in der Backstube stehen. »Heute genieße ich, zwischen 7 und 8 Uhr aufzustehen«, betont Seiz, »früher hatte ich da dreiviertel meiner Arbeit schon gemacht.« Aufstehen und schaffen mitten in der Nacht, damit die Mitmenschen frühmorgens frische Brötchen und Brot kaufen können, hält viele junge Leute vom Bäckerhandwerk ab. Betreiber, die die kleine Glemser Familienbäckerei im bisherigen Stil weitergeführt hätten, hat Reiner Gönninger nicht gefunden; unter anderem über ein munteres Schild im Schaufenster hatte der danach gesucht.
Die beiden Töchter des Ehepaars gehen andere berufliche Wege. Die Filiale einer Großbäckerei wollten die Gönningers nicht in ihren Räumen haben. Nur 20 Prozent der Kundschaft sei aus Glems gewesen, 80 Prozent dagegen von außerhalb - wegen der Qualität der Backwaren. Die Brezeln aus dem Metzinger Dorf wusste der Metzinger Gemeinderat in seinen Sitzungen genauso zu schätzen wie die Zeitschrift Der Feinschmecker: 2013 zählte sie die Bäckerei Gönninger zu »Deutschlands Besten«.
»Restvorräte haben wir am Tag der offenen Backstube verteilt. Die Teigmaschine steht schon beim Sportverein «
Diese Kür ist Vergangenheit genau wie die ganze kleine Bäckerei. Die hat sich auf Raten verabschiedet, und nicht so, wie geplant. Wollte man eigentlich nach den Betriebsferien nochmal öffnen und zu Heiligabend endgültig schließen, verletzte sich der Chef im Sommer-Urlaub schwer am Knie. Die Folge: Nach den dreiwöchigen Betriebsferien in August und September blieben die Ladentüren zu. Auf gingen sie im Oktober nochmal für zwei Wochen. Dann wiesen Schilder im Schaufenster auf eine weitere zwingende Schließung hin: »Eine weitere OP ist nötig.« Denn ein einziger Bäckermeister kann unmöglich Brot, Brezeln, Brötchen, Croissants oder Hefezopf für alle Kunden backen.
Also blieb nur noch der Abgesang am Tag der offenen Backstube Ende November. »Wir haben auch Weihnachtsplätzchen verkauft«, blickt der backende Ortsvorsteher Andreas Seiz zurück. Und das Team hat restliche Vorräte verteilt, Mehl genauso wie Nudeln, die noch lange haltbar bleiben. Die Bäckersleute, Anfang 60 wie Seiz, setzen sich zur Ruhe, viele Kunden verlieren ihre unverwechselbaren Lieblingsbrezeln, die Backstube verliert ihr Gesicht.
Auf dem Weihnachtsmarkt vergangenes Wochenende im Glemser Ortskern fehlte der Gönninger-Stand nach vielen, vielen Jahren erstmals. »Die Teigmaschine steht schon beim Sportverein«, informiert Seiz. Er selbst hat jetzt Zeit und Raum nicht nur für die Kommunalpolitik, sondern auch für die sich verjüngende Familie: »Ich bin seit ein paar Wochen Opa.« (GEA)