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Zwischen Trugbild und Verheißung

»Träume sind Schäume« mit dem inklusiven Tonne-Ensemble entführt in die Welt des Zwielichts und der Fantasie

Coralie Honl, Bahattin Güngör, Gabriele Wermeling, Roswitha John
Coralie Honl, Bahattin Güngör, Gabriele Wermeling, Roswitha John (von links) und weitere Mitglieder des inklusiven Ensembles in der Produktion »Träume sind Schäume«, die das Theater Die Tonne bis zum 29. Mai zeigt. Foto: ARMBRUSTER/TONNE
Coralie Honl, Bahattin Güngör, Gabriele Wermeling, Roswitha John (von links) und weitere Mitglieder des inklusiven Ensembles in der Produktion »Träume sind Schäume«, die das Theater Die Tonne bis zum 29. Mai zeigt.
Foto: ARMBRUSTER/TONNE

REUTLINGEN. Was für ein starker Bilderreigen! Der inklusive Theaterabend, den Yaron Shamir unter dem Titel »Träume sind Schäume« am Theater Die Tonne inszeniert und choreografiert hat – Premiere war am Donnerstag –, fesselt nicht als durcherzählte Geschichte, sondern als in poetischen und üppigen Bildern angelegte Reise durch Fantasien und Träume.

Alle haben sie ihren Anteil daran: die beherzt und mit Sinn für Komik wie für das Alptraumhafte spielenden Darstellerinnen aus dem inklusiven Tonne-Ensemble – Haydar Baydur, Bahattin Güngör, Nina Hoehne, Coralie Honl, Seyyah Inal, Daniel Irschik, Roswitha John, Anne-Kathrin Killguss, Santiago Österle, Antje Rapp, Andrea-Sophie Richter und Gabriele Wermeling. Co-Regisseur Daniel Tille, der bei der Stückentwicklung zugleich als Text-Verantwortlicher fungierte. Kostümbildnerin Sibylle Schulze, die dem Übersteigerten und dem Wunsch der Beteiligten nach Glitzerwelten Rechnung trägt. Der Komponist Stefan Menzel (Sandrow M), der die Darstellerinnen und Darsteller ausgehend vom Geräusch einer tickenden Uhr in verträumte Piano-Welten und einen ausgelassenen Rave schickt. Iskra Jovanovi c´-Glavaš, die für eine besonders traurige Szene eine menschengroße Gliederpuppe geschaffen hat. Und viele andere.

Panzer gegen Enttäuschungen

Die von Anne-Kathrin Killguss sensibel geführte Puppe mit einer Aura von gleichzeitiger An- und Abwesenheit dient Daniel Irschik als Anspielstation. Ihr macht der seltsam mit sich selbst beschäftigt Wirkende in angedeuteter Rittermontur einen Heiratsantrag. Doch die Möglichkeit, dass sie Ja sagt, bleibt für ihn schwer zu verarbeitende Illusion. Mit jedem Mal mehr, dass er »Ich liebe dich doch« sagt, verpufft das von ihm ersehnte traute Glück, wird die Tragik, die in seinem Beharren liegt, ein Stück spürbarer. Mit den Worten »Ich liebe dich« legen ihm die schwarz gekleideten Ensemblemitglieder nach und nach Teile eines vor Enttäuschungen schützenden Panzers an.

Gabriele Wermeling führt souverän moderierend durch den Abend. Sachlich meist und mit Fragen immer wieder auf die Traum-Erfahrungen der Menschen im Publikum anspielend. Gelegentlich mit sanften verbalen Spitzen gegen menschliche Illusionen und Schwächen. Von heilsamen, tröstenden, warnenden und auch heimsuchenden Träumen ist da die Rede. Von Heldinnen und Helden, zu denen wir in unseren Träumen werden. Von Träumen, die uns verzaubern oder um den Verstand bringen. Die uns beflügelnd wahr werden oder uns in Sackgassen führen.

Nicht jeder könne den dicksten Goldfisch angeln, sagt Wermeling. Und leitet über zur ersten Szene, die Seyyah Inal als an seinem Glück und seinen Fähigkeiten zweifelnden Angler zeigt. Mit leeren Dosen, einem Stiefel und Ähnlichem, die er aus dem Wasser gezogen hat, kann er nichts anfangen. Gerade als er eine höhere Macht bittet, ihm ein Zeichen zu senden, zappelt ein Fisch an der Angel. Kein gewöhnlicher Fisch, wie sich herausstellt, sondern einer, der sprechen, ja sogar singen kann. Santiago Österle spielt diesen Goldfisch, der wie der Angler Klartext spricht. Überhaupt ist es eine derb-gewitzte und alltägliche Sprache, die beide pflegen.

Situationskomik auskosten

Österle und Inal kosten die Situationskomik wunderbar aus und ernten einige Lacher, bevor der Goldfisch mit dem »Kümmer-Gen« den Kindheitswunsch des Anglers erfüllt und ihn zum gefeierten Formel-1-Star macht. Weil im Traum schlichtweg alles möglich ist. Aus zwei Rollstühlen, auf die die beiden Darsteller auch im wahren Leben angewiesen sind, werden Boliden. Ein rasantes, Glückshormone freisetzendes Rennen beginnt, bei dem das Publikum ihnen zujubelt.

Elemente des Tanzes tauchen im Stück immer wieder auf, ob im Rollstuhl oder mit den Händen der Ensemblemitglieder an einem Metallkettenvorhang. Herrlich die Szene, in der die ins Riesenhaft-Göttliche gesteigerte Coralie Honl und Roswitha John als ihre auf den Machterhalt versessene Schwester einander anzicken, weil die Menschen sie als Autoritäten nicht mehr anerkennen, sie als Witzfiguren sehen. Während sie »Nieder mit ihnen« und »Vergeltung, Rache« schreien, rückt Bahattin Güngör als Anführer eines Revolutionskommandos an, um in den Palästen aufzuräumen.

Einmal stehen zu bleiben und die Perspektive zu wechseln, dazu rät Wermeling. Das Leben träume sich mit offenen Augen doch viel schöner. Das Schlusswort hat Santiago Österle, der in einem selbst geschriebenen Rap-Text eine Abwärtsspirale beschreibt, in der er gleichwohl die Möglichkeit erkennt, sie aller Entmutigungen zum Trotz auch nach oben zu beschreiten.

Für die Mitwirkenden auf der Bühne und hinter den Kulissen gab es bei der Uraufführung stehende Ovationen. (GEA)