REUTLINGEN. Der russische Komponist Dmitri Schostakowitsch (1906–1975) hätte es besser wissen können, als er 1945 in Moskau seine mit Spannung erwartete neunte Sinfonie präsentierte. Er war 1936 bereits Gegenstand eines Scherbengerichts gewesen, bei dem Josef Stalin seine Oper »Lady Macbeth von Mzensk« als »albernes Zeug, keine Musik« abgetan hatte.
Nun, nach dem Sieg über Nazi-Deutschland, erwartete man von Schostakowitsch eine triumphale Siegessinfonie mit großem Orchester samt Chor. Doch was er stattdessen ablieferte, war ein in Teilen spöttisches, zirkushaftes Werk, mit dem er sich allen Erwartungen entzog – manche sagen auch: sie mutwillig unterlief. Mit der Folge, dass er erneut bei Stalin in Ungnade fiel und in öffentlicher Rede »Einsicht« und »Ergebenheit« demonstrieren musste.
Dieses Werk, diese neunte Sinfonie, hat die Württembergische Philharmonie am Montagabend in der Reutlinger Stadthalle gespielt. Eine Musik, die, gerade weil sie auf Pomp verzichtet und neben dem übermütigen Spiel auch auf innige, mahnende Klänge setzt, ungemein passend für die heutige Zeit wirkt. Zumal in der fulminanten Art und Weise, in der der britische Gastdirigent Jamie Phillips und das Orchester das Werk interpretierten. Mit gut gewählten Tempi, grandios inszenierter Absurdität im Kopfsatz, einem zweiten Satz, der, von bedrohlichen und klagenden Motiven bestimmt, geprägt von gedämpften Holzbläsern war.
Wie beschwipst
Wo anfänglich nur eine nackte Klarinettenmelodie war, trat eine zweite Klarinette hinzu, Flöte und Fagott folgten. Ein über viele Takte sterbender Ton der Piccoloflöte stand am Ende dieses zweiten Satzes, der zuvor wogende, aber gedämpfte Streicher gezeigt hatte.
Dem Presto mit seinem wilden, galoppierenden Thema, in das sich die Trompete mit zirkusartiger Melodie einschaltete und das am Ende erlahmte, folgte ein ergreifendes Largo, eröffnet von einem martialischen Fanfaren-Thema. Doch nach einem Beckenschlag fand die Musik – wie die andere Seite des Krieges zeigend – zu einem innigen Thema. Michael Laucke erhielt für sein aufwühlendes Fagott-Rezitativ später viel Applaus. Wie überhaupt das Orchester, für dessen Hauptexponenten an diesem Abend Jamie Phillips das Publikum in der fast vollen Halle um Einzelapplaus bat. Das Hauptthema des von der Philharmonie kunstvoll ins Groteske gesteigerten Finales war schließlich eine Variante des Lieds »Macpherson vor der Hinrichtung«, das Schostakowitsch 1942 als Teil des Zyklus Opus 62 komponierte und dessen Lieder sich allesamt um Freiheit drehen.
Der Konzertabend hatte mit einer dreisätzigen Suite aus der Oper »Powder Her Face« des 1971 geborenen Briten Thomas Adès begonnen, einem ironischen Sittengemälde in der Tradition von Kurt Weill und Bertolt Brecht. Dekadenter Glanz vergangener Epochen kam hier in einem surreal verdrehten Foxtrott zum Tragen, kontrastiert mit den spöttisch aufgelegten Klarinetten.
Den darauffolgenden Walzer servierte das Orchester wie beschwipst in einem steten Gegeneinander von Zweier- und Dreierrhythmen. Beißende und spitze Töne wie zuvor in der Ouvertüre waren zu hören und am Ende ein höhnischer Tango. Ein bei aller Launigkeit verschmitzter Einstand! Dem das Werk eines weiteren Britten folgte: Edward Elgars Cellokonzert bot Wolfgang Emanuel Schmidt, nicht zum ersten Mal zu Gast bei der Württembergischen Philharmonie, vor der Pause Raum, um als Solist zu glänzen. Das einfühlsam begleitende Orchester kam hier, wie vom Komponisten gewollt, nur in den reinen Tutti-Passagen zu sinfonischer Entfaltung – das Werk ist ganz auf das Soloinstrument zugeschnitten.
Betörend traurig
Schmidt, der, wenn man ihn beobachtete, eher analytisch an das 1919 uraufgeführte Werk heranzugehen schien, gelang, wo man sich auf das Hören beschränkte, ein oft betörend trauriger, rhapsodischer Ausdruck. Großartig der schwebende Charakter einer Endlos-Kantilene im Adagio, dem lyrischen Kernstück des Werks. Ein tänzerisch beginnendes Rondo wendete sich ins Dramatische. Im vollen Orchesterklang ging es auf das abrupt wirkende Ende zu. Herzlich-hartnäckiger Applaus brachte Wolfgang Emanuel Schmidt immer wieder auf die Bühne zurück. Er verabschiedete sich mit Sergej Prokofjews »Kindermarsch« als Zugabe.
Als wesensverwandt mit Schostakowitschs Neunter wollte Gastdirigent Jamie Phillips die vorab vom Orchester gespielte Sinfonie in C-Dur »Laudon« von Joseph Haydn verstanden wissen. Das Unbeschwerte und Fröhliche mischten die Musikerinnen und Musiker bei der Wiedergabe gekonnt mit dem Ironischen und dem Versonnenen. Gesetzte Fragezeichen vermeinte man vereinzelt zu hören, ein hinkendes Stolzieren in einem Spiel aus Leichtigkeit und Schwere und rhythmische Verschiebungen. Kantig, bisweilen auch puppenhaft kam diese Musik daher, das Finale geriet rasch und knackig. (GEA)