REUTLINGEN. Die Pandemie hat die zeitlichen Konzepte der Kuratoren über den Haufen geworfen und eine so nicht geplante Koexistenz zweier Ausstellungen geschaffen. Zu Jenny Michel, die im Reutlinger Spendhaus fantastische Welten und Weltfragmente zu betörenden und verstörend dichten Strukturen wachsen lässt (zu sehen bis 8. August), ist nun die mehrfach verschobene opulente Überblicksschau »Peter Buggenhout: nicht geheuer« im Kunstmuseum Reutlingen / konkret in den Wandel-Hallen dazugekommen – zu sehen bis zum 12. September.
Der belgische Künstler Peter Buggenhout, 1963 in Dendermonde geboren, fügt Reste und Abfallstücke, Dinge, die ihre instrumentelle Form verloren haben, zu hybriden Haufen, Konglomeraten oder Korpussen und zeigt, »dass das Weggeworfene nicht verschwunden, sondern zombiefiziert zurückgekehrt ist«, wie Maren Keß-Hälbig vom Kunstmuseum in Vertretung des Kurators der Ausstellung, Dr. Holger Kube Ventura, es ausdrückt.
Beide Ausstellungen ergänzen sich, wie Dr. Ina Dinter findet, sehr gut. Die Museumsleiterin weist darauf hin, dass die Künstlerin wie der Künstler mit aufgefundenen Materialien arbeiten und »ähnliche Fragestellungen verfolgen« im Hinblick auf Zivilisation beziehungsweise die Reste der Zivilisation.
Autonomes Gegenüber?
Dabei betätigt sich Buggenhout als eine Art Archäologe der Zukunft, der uns mit seinen Plastiken teilweise Beklemmung hervorrufende materielle Ungetüme vorsetzt, wie wir sie künftigen Generationen hinterlassen. Objekte, die uns mit ihrer enormen Physis auffordern, sich zu ihnen zu verhalten. Wobei unbestimmt bleibt, ob es ein übrig gebliebener Haufen oder ein autonomes Gegenüber ist, mit dem wir da den Raum teilen. Auch der Widerspruch von Ähnlichkeit (bis hin zur Wiedererkennung) und Andersartigkeit bleibt für uns als Betrachter unaufgelöst.
Werkgruppenbezeichnungen wie »Mute Witness« (Stummer Zeuge), »On Hold« (In der Warteschleife) oder »Gorgo« (in der griechischen Mythologie ein Ungeheuer mit versteinerndem Blick und Schlangenhaar) geben den Assoziationen Nahrung, ebenso die Hinweise darauf, welche Materialien der Künstler verwendet hat. Im Fall von »Gorgo« etwa sind das Metall, Kunststoff, Polyester, Polyurethan, Textilstoff und Holz, aber auch Tierblut und Pferdehaar.
Man tritt diesen Wesen – wenn man die Objekte denn so nennen will – mit einem gewissen Unbehagen, einer Mischung aus Scheu und Respekt gegenüber, ist gleichzeitig angezogen und abgestoßen. Und das, obwohl einem mit FFP2-Maske im Gesicht entgeht, dass die Plastiken zuweilen auch sonderbare Gerüche verströmen.
Industriestaub und Staub aus Staubsaugern geben einer Reihe von Skulpturen – sie muten an wie Ruinen rätselhafter Maschinen oder Apparaturen – eine monochrome Oberfläche, lassen sie apokalyptisch und bizarr erscheinen.
Die »stummen Zeugen« hängen als kissen- oder torsoförmige Objekte an der Wand, die Oberfläche aus Stoff mit Flecken übersät. Man kann mutmaßen, worüber sie Zeugnis ablegen, ob die Falten werfende Hülle etwas verbirgt. Ob man vielleicht selbst hier zum Zeugen wird.
Für die Reutlinger Ausstellung hat Buggenhout drei neue Werke geschaffen, wobei er erstmals den für Beständigkeit und unsere Kulturgeschichte stehenden Carrara-Marmor verwendete. Gleichzeitig scheint alles, was senkrecht im Raum an der Marmorplatte hängt, auf Verfall hinzudeuten. Am Fenster platziert, blitzt das Tageslicht auf dem Objekt aus der Werkreihe »I am the tablet« (etwa: Ich bin die Tafel), genauer auf dem Kunstglas, das darunterliegende Schichten zudeckt. Maren Keß-Hälbig betont, dass Stein auch Ausdruck einer naturgeschichtlichen Zeit ist, die jene der Menschheit um ein vielfaches überragt.
Im Entstehungsprozess, so Keß-Hälbig, habe Buggenhout die biblischen Steintafeln mit den Zehn Geboten vor Augen gehabt, die Moses auf dem Berg Sinai von Gott empfangen haben soll. Durch vom Menschen Schicht auf Schicht immer wieder neu hinzugefügte Kommentare, so die Annahme, sind die Tafeln und damit die das Zusammenleben regelnden Gesetze unlesbar geworden. Der Künstler sagt über die Objekte: »Es entsteht also ein neues Chaos. Wir und unsere Kultur erzeugen den gleichen Dschungel, aus dem wir gekommen sind.« (GEA)
AUSSTELLUNGSINFO
Die Ausstellung »Peter Buggenhout: nicht geheuer« im Kunstmuseum Reutlingen / konkret in den Wandel-Hallen, Eberhardstraße 14 in Reutlingen, ist bis zum 12. September zu sehen. Geöffnet ist Dienstag bis Samstag von 11 bis 17 Uhr, Donnerstag von 11 bis 19 und Sonntag/Feiertag von 11 bis 18 Uhr.
Unter dem Motto »Night of the Living Sculptures – Nachts im Kunstmuseum« ist die Schau zudem am 12. Juni, 10. Juli, 14. August und 11. September zwischen 22 und 0.30 Uhr zu sehen. Dabei kann man Buggenhouts Skulpturen in besonderer Atmosphäre entdecken – auf eigene Faust und nur beim Licht einer Taschenlampe.
Der Katalog zur Ausstellung erscheint bei DCV. (GEA)