REUTLINGEN. Heuer jährt sich das Geburtsjahr von Rainer Maria Rilke zum 150., das Todesjahr der Dichterin Marie Luise Kaschnitz zum 50. Mal. Während Rilke gefeiert wird, ist es um Kaschnitz ruhig geblieben. Ihr nüchtern-tiefgründiger Stil fand schon früher nur einen kleinen Anhängerkreis; umso verdienstvoller ist es, an sie zu erinnern.
Dafür hat die Gedok Reutlingen zwei hiesige Künstler gewonnen: Renate Hausmann, erfahrene Sprecherin und Gedok-Mitglied seit 1971, sowie Peter Eberl, seit 2018 Soloflötist bei der Württembergischen Philharmonie Reutlingen. Beide wechselten sich ab beim Erzählen in Worten und Tönen.
Gedichte zum Jenseits
Zunächst gab es drei Gedichte zum Thema Jenseits von Marie Luise Kaschnitz; von Renate Hausmann zusammenhängend und auswendig rezitiert, als handele es sich um eines. Schade, dass sie nicht abgedruckt waren – so musste man sich den Wortlaut einprägen. Wie meistens stellt Kaschnitz‘ lyrisches Ich Fragen: »Wie sie aussehen werden die Engel?« Oder: »Sollten wir doch gerichtet werden?« Die Sprecherin verleiht ihnen ihre sensible, nuancenreich Hintergründe auslotende Stimme.
Ebenso beredt wirkt das Flötenspiel von Peter Eberl. Nach Kaschnitz‘ Zeilen öffnet ein »Image pour flûte seule« von Eugène Bozza das Ohr für Zwischentöne; seine tiefe Lage atmet ebenso Geheimes wie die flirrenden Figuren.
Rilke und der liebe Gott
Rilke ist hier nicht mit bekannten Gedichten vertreten, sondern mit der Erzählung »Der Bettler und das stolze Fräulein« aus dem Büchlein »Vom lieben Gott und Anderes«. Auch darin geht es um Religion, nämlich um Stolz und Barmherzigkeit, eine der Todsünden und eine der Haupttugenden des Katholizismus: Das angeblich stolze Fräulein entpuppt sich als mildtätig gegenüber ihrem verkleideten Herausforderer, der danach zum Heiligen wird.
Ruhig und diskret, ohne zu dramatisieren, gibt Renate Hausmann diese Geschichte komplett auswendig und so detailreich fesselnd wieder, dass das Publikum unmerklich hineingezogen wird. Beim Szenenwechsel übernehmen Eberls Querflöten die Erzählerrolle: mit der im Text erwähnten Canzona »Il Trionfo di Bacco ed Arianna«, die Eberl im Stil jener Zeit singt, spielt und rhythmisch klatschend untermalt, später mit einer von Telemanns Solo-Fantasien, die er als vielstimmiges Gespräch gestaltet. Das Ende markiert eine von André Jolivets »Incantations«, die in den dunklen Tönen der Alt-Querflöte das göttliche Geheimnis der Rilke-Erzählung zu beschwören scheint. Herzlicher Applaus, zwei passende Zugaben. (GEA)