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Wimmelnde Moderne: Eichingers Bilder in der Reutlinger Kreissparkasse

Seine Bilder wirken wie wimmelnde Wunderkammern der Moderne: Henning Eichinger stellt in der Reutlinger Kreissparkasse aus. Neuerdings tauchen auch Schlagwörter aus der Jugendsprache auf.

Henning Eichinger vor einem seiner Bilder aus der Serie »Horror Vacui«.
Henning Eichinger vor einem seiner Bilder aus der Serie »Horror Vacui«. Foto: Armin Knauer
Henning Eichinger vor einem seiner Bilder aus der Serie »Horror Vacui«.
Foto: Armin Knauer

REUTLINGEN. Wenn schon »amazing« über einer Ausstellung steht, muss sie einfach gut sein. Auf den ersten Bildern von Henning Eichinger in seiner neuen Schau in der Reutlinger Kreissparkasse stößt man gleich noch auf weitere englische Jubelvokabeln: »nice«, »awesome«, »spectacular«. Sollten Besucher nach Worten suchen, um ihrer Begeisterung über die Schau Ausdruck zu verleihen: bitte schön!

Natürlich ist das ironisch gemeint von Eichinger, Anfang der 1980er in Dortmund in Visueller Kommunikation ausgebildet, seit 1997 Professor für künstlerisches Gestalten im Studiengang Textil-/Modedesign an der Hochschule Reutlingen. Die Schlagworte prangen in Retroschrift auf Bildern, die mit ihrem erdigen Rotton wie Reklameplakate aus den 1960ern wirken. Die Schlagworte selbst hat Eichinger der Jugendsprache entnommen, die ihm bei seinen Studenten begegnet.

Müllberge der Zivilisation

Unter den Jubelschlagworten türmen sich Rot in Rot Strukturen, die Rainer Lawicki, Vizeleiter des Kunstmuseums Reutlingen, in seiner Einführung als »Müllberge der Zivilisation« bezeichnet hat. Blumen, Seile, Lautsprecher, eine Madonna, die russische Sputnik-Sonde und sehr viele Blumen bilden imposante Alpenmassive, über denen die Signalwörter leuchten wie die Sonne überm Zillertal.

Ausstellungsinfo

Die Ausstellung »amazing« mit Bildern von Henning Eichinger aus den letzten 15 Jahren ist bis zum 6. September während der regulären Öffnungszeiten in der Kundenhalle der Reutlinger Kreissparkasse zu sehen: Montag bis Freitag 9 bis 12.30 Uhr und 13.30 bis 17 Uhr. (GEA)

Auch da blendet Eichinger Retro und Heute verschmitzt übereinander. Vieles von diesem Zivilisationsgerümpel führt zurück in die Technikpionierzeit von Oma und Opa. Das Prinzip hingegen, mit dem Eichinger arbeitet, führt ins Internet-Zeitalter. Bei ihm stecken wir mitten in der medialen Bilderflut, in der jedes nur erdenkliche Motiv nur einen Mausklick weit entfernt ist. Erleben die Überforderung durch die bildliche Gleichzeitigkeit von allem.

Eichinger greift in diese Fülle, fördert Disparates zutage, setzt es in demokratischer Gleichberechtigung nebeneinander. Füllt in seinen schwarz-weiß-grauen Großformaten der Serie »Horror Vacui« ganze Leinwände damit. Vogel neben Blume neben Staubsauger und Coronavirus. Was uns exakt nacherleben lässt, was jeden von uns im Internet ereilt: Was ist an Relevanz, was nur Popanz in all dem Informationsgeblubber?

Dieses Bild hat der Ausstellung den Titel verschafft: Zivilisationsgerät und Blumen türmen sich zum Bergmassiv.
Dieses Bild hat der Ausstellung den Titel verschafft: Zivilisationsgerät und Blumen türmen sich zum Bergmassiv. Foto: Armin Knauer
Dieses Bild hat der Ausstellung den Titel verschafft: Zivilisationsgerät und Blumen türmen sich zum Bergmassiv.
Foto: Armin Knauer

Nur dass man das bei Eichinger vollkommen analog erfährt: »Öl und Lack auf Leinwand« steht auf den Bildern. Im Herstellungsprozess seiner Bildmontagen mag Eichinger noch einen Beamer benützt haben; in der Ausstellung ist von digitalen Medien keine Spur mehr.

Das scheinbare Wimmelchaos wiederum ist tatsächlich eine Überblendung verschiedener Schichten. Da ist einmal die Schicht von Omas und Opas Fortschrittsbegeisterung der Nachkriegszeit, aus der all die Eigendynamik bis hin zur Künstlichen Intelligenz erst hervorsprudelte. Da ist die Schicht der Natur, mit Vögeln, Blumen, Blüten, die jedoch mit dem Zivilisationsgerät untrennbar verwoben ist - wie im echten Leben auch.

Prinzip des »All-over«

Schließlich führt die Gesamtanlage dieser Wimmelbilder noch weiter zurück. Zum Action-Painter Jackson Pollock und seinem Prinzip des die Bildfläche überwuchernden »All-over«, wie Lawicki konstatierte. Und noch weiter in die Zeit von Barock und Aufklärung, in der all das Entdeckertum und der zivilisatorische Aufbruch seinen Anfang nahm. Damals richteten die Fürsten »Wunderkammern« ein, in denen sie Gästen Kurioses und Wunderliches aus den Kolonien oder den eigenen Landen präsentierten.

Wie in solchen Wunderkammern fühlt sich der Betrachter in Eichingers Bildern. Er staunt, entdeckt Neues, streift durch Zeiten, Kulturen. Und stößt immer wieder auf einen spieluhrartigen Kasten mit einem riesigen Aufziehschlüssel. So als ob die ganze Welt, wie man bis ins 19. Jahrhundert dachte, ein riesiger Mechanismus sei. Den der Herrgott wie eine Spieluhr aufgezogen hat, und nun rattert die Apparatur vor sich hin.

Insekten und griechische Säulen formen bei Eichinger wundersame Landschaften.
Insekten und griechische Säulen formen bei Eichinger wundersame Landschaften. Foto: Armin Knauer
Insekten und griechische Säulen formen bei Eichinger wundersame Landschaften.
Foto: Armin Knauer

Man begegnet diesen Übereinanderprojektionen von Zeiten, Motiven und Themen in verschiedenen Varianten. Schwarz-weiß-grau in der Serie »Horror Vacui«, retrorot in der Serie »amazing«, quirlig-bunt in der Serie »Glitch«. Oder verteilt auf kleine Einzelbilder in einer weiteren Serie. Ihr konkreter Sinn bleibt dabei surreal und verrätselt.

Das heillose Ineinander von Natur und Kultur bei Eichinger kann man als Katastrophenszenario lesen - muss es aber nicht. Man kann seine Bilder auch betreten wie Wunderwelten, die eine ganz eigene Poesie ausstrahlen. Die wir mit großen Kinderaugen entdecken. Wie einst die kleine Alice bei Lewis Carroll, nachdem sie durchs Kaninchenloch fiel. Wir entdecken in all dem Gewimmel eine ganz neue Welt. Ehe uns dämmert, dass es unsere eigene ist. (GEA)