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Wilde Tanzlust: Gauthier Dance zeigt im Theaterhaus Stuttgart »Fireworks«

Mit reichlich Jazz und zehn Uraufführungen zündet Eric Gauthier im Theaterhaus Stuttgart seine »Fireworks«.

Im Schwitzkasten: »Thinkin' about!« von Stijn Celis.
Im Schwitzkasten: »Thinkin' about!« von Stijn Celis. Foto: Jeanette Bak
Im Schwitzkasten: »Thinkin' about!« von Stijn Celis.
Foto: Jeanette Bak

STUTTGART. Das 40-jährige Jubiläum des Stuttgarter Theaterhauses wurde bereits Ende März gefeiert, jetzt schießt Eric Gauthier noch ein paar Feuerwerksraketen für seinen Chef Werner Schretzmeier hinterher – und was für einen tollen Abend er sich wieder ausgedacht hat! Kein anderer deutscher Tanzdirektor würde auf die Idee kommen, mal eben zehn internationale Choreografen zu engagieren, ihnen eine Liste mit Jazzsongs vorzulegen, die in den 40 Jahren alle hier live erklungen sind, und aus ihren unterschiedlichen Werken zu dieser Theaterhaus-Musik ein dichtes, so abwechslungsreiches wie unterhaltsames Tanzstück zu weben. Gauthier kriegt sie alle, und dann machen sie auch noch richtig gute Stücke.

Vor der hohen Ziegelrückwand im großen Saal ist den 16 wunderbaren Interpreten von Gauthier Dance ein roter Tanzteppich ausgerollt. Wie in einer Arena sitzen sie rechts und links am Rand, aufgereiht hinter ihnen jede Menge abstrakte oder nostalgische Kostüme, mit denen Gudrun Schretzmeier jedes Stück passend ausgestattet hat. Zu schräger Balkan-Blasmusik eröffnet Barak Marshall den Reigen mit acht Paaren, die sich aus gesitteter Foxtrott-Haltung in wilde Tanzlust stürzen. Darauf folgen stille Duos, entspannte oder auch beklemmende Gruppenstücke, fast alle ungemein musikalisch choreografiert und vielleicht sogar durch ihre prägnante Kürze so spannend geraten.

Herzzerreißender Abschied

Die Würzburger Ballettdirektorin Dominique Dumais etwa lässt zu Laurie Andersons pulsierenden Rhythmen Wellen durch eine identisch gekleidete Gruppe laufen und irritiert deren Geometrie und mechanisches Ostinato immer wieder durch kleine Abweichungen – das coole Stück würde der Gruppe Kraftwerk perfekt stehen. Die Kanadierin Virginie Brunelle greift zu Musik von Philip Glass die Handlung seiner Oper »Les enfants terribles« auf und lässt, gespiegelt in drei Schattenpaaren, die selbstmörderische Schwester bedrohlich um ihren Bruder kreisen. Was leider etwas unentschieden endet.

Irritierte Geometrie in »Hold me now« von Dominique Dumais.
Irritierte Geometrie in »Hold me now« von Dominique Dumais. Foto: Jeanette Bak
Irritierte Geometrie in »Hold me now« von Dominique Dumais.
Foto: Jeanette Bak

Mauro Bigonzetti schuf zu Chet Bakers »I‘m Old Fashioned« ein nachdenkliches Duo, das sich lasziv in den Blues schmiegt und in einer Pose von rätselhafter Schönheit endet. Den Moment, in dem eine kurze Begegnung zur Erinnerung wird, zeigt der Schwede Johan Inger zu traurigem Glockengeläut des Kronos Quartets: Immer und immer wieder kehren die zwei Tänzerinnen um, nehmen einzeln und für sich alleine herzzerreißenden Abschied – was für ein zärtliches, melancholisches Stück.

»West Side Story« und Bohème

Das amerikanische Jazz-Verständnis führt Benjamin Millepied zur Freiheitshymne des Oscar Peterson Trios vor: Ein wenig oberflächlich in der Ästhetik, aber mit dem »West Side Story«-Rhythmus in den Knochen lässt der Franzose vier Freunde chillen. Die knallbunten Trainingsklamotten peppen das Ganze deutlich auf. Das Originellste an »Sharona« von Andonis Foniadakis ist Erika Stuckys musikalische Adaption des alten Hits für Stimme und Basstuba. Nostalgisch wird es mit Sofia Nappi, dem Shooting-Star aus Italien – sie inszeniert tatsächlich eine elegante Bohème zu Charles Aznavours gleichnamigem Song, dandyhaft fließend und mit intellektueller Distanz. Mit feinstem Understatement zeichnet der Saarbrücker Ballettchef Stijn Celis schöne Linien zu Bobby McFerrins Sologesangsrhythmen. Verblassen muss fast alles neben Marco Goecke, dessen virtuose Bewegungsfindung zwischen Schönheit und Schrecken einfach jeden Abend sprengt, hier in einem fulminanten Duo zu Mercedes Sosa.

Wuppertal lässt grüßen

Am Schluss lässt Barak Marshall die Truppe wie ermattete Tanzmaschinen zu Boden sinken – der trockene Humor des neuen Hauschoreografen steht Gauthiers Truppe perfekt. Der zweite Teil des Abends bringt Wiederbegegnungen mit Gauthiers originellem Ballett-Erklär-Solo »ABC«, mit schönster Technik und reichlich Ironie getanzt von Shori?Yamamoto, mit dem harmlos-hübschen »Lickety Split« von Alejandro Cerrudo und dem Trampolin-»Bolero« von Foniadakis, den auch mehr Tänzer nicht besser machen. Einen Wuppertal-reifen Auftritt legt die großartige Bruna Andrade in Goeckes Pina-Bausch-Hommage »Infant Spirit« hin – zögernd, flüsternd und dann doch so mutig in diesem introvertierten Stück, das mit einer anspielungsreichen Nelke im Knopfloch endet. Es bleibt nach einem spannenden, reichen Abend die Frage, wie Eric Gauthier zehn Uraufführungen in einen Abend packen kann und das Stuttgarter Ballettflaggschiff im Staatstheater, finanziell mehrfach besser ausgestattet, in dieser Spielzeit keine einzige schafft. (GEA)