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Aktuell Lesung

Wiedererweckte Gehirnzellen

TÜBINGEN. Kein Tag vergeht, an dem nicht irgendwer den Niedergang der deutschen Sprache beweint. Aber wo waren sie, all die Deutschlehrer, Germanistikdoktoranden, Feuilletonkonsumenten, Genitiv-Apostroph-Lästerer und Falscher-Weilsatz-Frustrierten? Jedenfalls nicht da, wo sie am Mittwochabend hingehört hätten: im Landestheater Württemberg-Hohenzollern. Dort war Max Goldt zu Gast, einer der großen Connaisseure und Bewahrer der deutschen Sprache. Kaum hundert Getreue verloren sich im großen LTT-Saal zwar ein wenig, doch sie ließen sich umso genüsslicher mit dieser unnachahmlich wohlgestalteten Stimme fein ziselierte Spitzfindigkeiten vorlesen.

Der gemeine Goldtfan sitzt normalerweise daheim auf einem Polstermöbel, pflegt ein etwas elitäres Lebensgefühl und gluckst über die Sprachkritik, die Goldt in seinen Prosabänden rituell betreibt. Die gehört natürlich auch auf die Bühne. »Bringen wir es gleich hinter uns«, eröffnete Goldt und plädierte dafür, solche Texte nicht als Sprachkritik, sondern als Spracherörterung verstanden zu wissen.

Diesmal: die inflationäre Verwendung des Wörtchens »lecker«. Früher habe man das ja nur für kleine Dinge benutzt, die man sich nebenbei in den Rachen stopft, das Wort stand »in Verbindung mit schokoladenverschmierten Kindermündern« oder mit dem bonbonwerfenden Menschenschlag im Rheinland. Heute sei es das zweithäufigste Adjektiv in der Fernsehwerbung und werde auch für erfolgreich aufgewärmte Tiefkühlgerichte eingesetzt. Der optimale Zeitpunkt, um darüber nachzudenken, ob Alternativadjektive wie »wohlschmeckend« überhaupt aus der Mode kommen können, wo sie doch nie Mode waren. Andere Sprach-Epidemien wurden gestreift – so die vermutlich von Gerhard Schröder eingeführte Marotte »von daher« zu sagen, ein großes Vergnügen für ein Publikum, das Kausalzusammenhänge sprachlich auch anders herstellen kann.

Dutzende nölende Stimmen

Zwei Leserunden von je einer knap-pen Stunde füllte Goldt. Aus zusammenkopierten User-Kommentaren auf Hotelbuchungs-Webseiten im Internet hatte er einen Fließtext geklöppelt, dem er Dutzende nölende Stimmen verlieh. Er analysierte den Menschenschlag, der sich bei Veranstaltungen in die erste Reihe setzt, ebenso wie das kleine Völkchen der Kaltduscher. Zu Recht rühmt man ihn als ungekrönten König der zwischenmenschlichen Detailbeobachtungen.

Bei Goldt trifft man auf Menschen, die man selbst schon gesehen, aber niemals so beschrieben hätte. Leute, die einen erschreckend auskunftswillig anschauen oder die einen stark ausgeprägten Sesshaftigkeitshintergrund haben. Retro-Couples, die in der Broilerbar sitzen. Herren, denen schlohweißer Bart von Kinn und Wangen trieft.

Goldts Pointen sitzen stets dort, wo noch nie zuvor jemand gelacht hat. Beim Zuhören werden Gehirnzellen geweckt, die im Alltag mit seinem sprachlichen Fastfood meist Winterschlaf machen. Während man im Theater-Klappsessel lehnt, rekeln sie sich genüsslich und sind garantiert perfekt durchblutet. Fast vergisst man zu lachen, weil man so hoch konzentriert zuhört und genießt. Sie werden ihn vermissen, die Gehirnzellen.

Keine Sorge: Wer Max Goldt diesmal verpasst hat, muss nicht lange warten. Am 9. Oktober ist er zu Gast in Reutlingen im franz.K. (GEA)