REUTLINGEN. Wie wollen wir leben? Was sind unsere Sehnsüchte? Wie sehen wir uns selbst? Das sind Fragen, die im Innersten alle Kunst beschäftigen. Besonders greifbar werden sie in einem Genre, das in der bildenden Kunst allenfalls eine Randrolle spielt: in Architekturentwürfen. Denn die Frage »Wie wollen wir leben?« impliziert immer auch die Frage »Wie wollen wir wohnen?«.
Nicole Fritz, die Leiterin der Kunsthalle Tübingen, ist auf diesen Zusammenhang früh gestoßen, bereits während ihres Studiums. 1992, als sie eine Seminararbeit zu Architekturzeichnungen anfertigen sollte, wurde ihr klar: Da steckt mehr drin. 33 Jahre lang schlummerte das Projekt in ihrem Hinterkopf – nun bekommt es in Tübingens Kunsttempel einen großen Aufschlag.
Wer nun befürchtet, sich mit trockenen technischen Zeichnungen herumschlagen zu müssen – weit gefehlt! Die Frage »Wie wollen wir wohnen?« – und damit: »Wie wollen wir leben?« – wird hier auf begeisternd sinnliche Weise gestellt.
Der Mensch als Spieltier
Was schon damit anfängt, dass Amelie Weyers, Studentin an der Hochschule Darmstadt, in den Willkommensraum eine Spiellandschaft zaubert. Mit einem quietschgrünen Sitzbälle-Gebirge und einer knalllila Kletterpyramide. Wohnen gleich spielen, der Mensch als Homo ludens, der ständig den vergnüglichen Austausch mit anderen braucht: eine charmante und optimistische Vision. Eine ganze Klasse der Hochschule hatte Entwürfe erarbeitet, der von Weyers erhielt den Zuschlag.

Sprung zurück: Bereits vor hundert Jahren reagierten Künstler auf eine Situation voller Kriege und Krisen mit farbenfroh explodierenden Architekturfantasien. Im Angesicht des Massenschlachtens des Ersten Weltkriegs träumten sich Leute wie Wenzel Hablik oder Hans Scharoun in ein futuristisches Utopia, in dem Mensch und Natur durch kühn geschwungene Bauten in Harmonie gebracht werden. Habliks Gemälde solcher Utopien nimmt Star-Wars-Welten vorweg.
Siegeszug des Rechten Winkels
Aber das gesellschaftliche Klima ändert sich schnell. Ernüchterung macht sich breit, die rechteckig-funktionalistischen Konzepte des Bauhauses setzen sich durch. Inspiriert, wie man hier nachvollziehen kann, durch die niederländische Kunstbewegung »De Stijl«, der auch Theo van Doesburg oder Piet Mondrian anhingen.
Um die Macht-Protz-Fantasien der Nationalsozialisten macht die Schau einen großen Bogen. Stürzt sich lieber gleich auf die 1950er, als der funktionalistische Faden flugs wieder aufgenommen wurde. Und in den 1960ern in hochtechnisierte Experimente mündete. Wie den »Kapseltürmen« des Japaners Kisho Kurokawa mit ihrem bienenstockartigen Konglomerat winziger Wohnwürfel mit integrierter Stereoanlage. Wohnen wie in einer Raumkapsel. Die abgeschwächte Version eines solchen Brutkastens thront in Gestalt zweier Wohntürme direkt gegenüber der Kunsthalle. Bernd Ribbeck hat die Fassaden eines der Türme durch ein Rundbogenmuster mit der Renaissance verknüpft.
Ausstellungsinfo
Die Ausstellung »Schöner Wohnen. Architekturvisionen von 1900 bis heute« ist in der Kunsthalle Tübingen, Philosophenweg 76, bis 19. Oktober zu sehen, Dienstag bis Sonntag von 11 bis 18 Uhr, Donnerstag bis 19 Uhr. (GEA)
www.kunsthalle-tuebingen.de
Die Gegenbewegung zu diesen Wohnmaschinen lässt nicht auf sich warten. Zum einen als Pop-Art-inspirierter Konsumrausch, wie ihn sich die Planer der Gruppe Archigram erträumen. Zum anderen als zur Erde und zum Ursprünglichen. Mit Entwürfen höhlenartiger Erdwohnungen Friedrich Kieslers. Oder den fröhlich-verspielten Ökoträumen eines Friedensreich Hundertwassers.
Damit sind wir schon in der Postmoderne. Die das Diktat des rechten Winkels abschüttelt, erneut die Harmonie mit der Natur und dem Ganzen sucht. Etwa mit den Entwürfen der Gruppe Hausrucker & Co., die sich transparente Wohnballons hoch über den Straßenschluchten erträumen. Während sich der Däne Verner Panton ein blaulila Plüschnest verwirklicht, Wohn- und Spielzimmer in einem. Da liegt Weyers Bälle-Gebirge nicht mehr fern.
Architektur als soziales Projekt
Ganz oben im letzten Saal reagieren zeitgenössische Künstler auf die Frage nach dem »Wie wollen wir leben – und wohnen?«. Für Thomas Ravens mündet die Frage in eine Endzeit-Vision zerfallender Städte. Während der Kongolese Bodys Isek Kingelez quirlige Plätze des Zusammenkommens entwirft, in fröhlich-bunten Modellen aus Alltagsmaterialien. Simone Rueß wiederum hat den sozialen Gedanken gleich in die Tat umgesetzt und zusammen mit Menschen mit Fluchterfahrung deren Wohn- und Lebensträume in Skizzen gefasst.
Die hintere Wand jedoch haben Heike Weber und Walter Eul von einem eigens programmierten Roboter mit einer Wolke aus lauter Hauswürfeln überziehen lassen. Eine Wolke, die sich gerade verdichtet oder auflöst? Die Stadt der Zukunft, vielleicht ist es eine KI, die sie entwirft. (GEA)