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»Wie man zer welte solte leben«

Vor 850 Jahren wurde Walther von der Vogelweide geboren. Er war auch ein politischer Dichter

Walther von der Vogelweide, wie ihn um 1300 der Illustrator der Großen Heidelberger Liederhandschrift sah. Da war der Sänger sch
Walther von der Vogelweide, wie ihn um 1300 der Illustrator der Großen Heidelberger Liederhandschrift sah. Da war der Sänger schon 70 Jahre tot. FOTO: PRAEFCKE
Walther von der Vogelweide, wie ihn um 1300 der Illustrator der Großen Heidelberger Liederhandschrift sah. Da war der Sänger schon 70 Jahre tot. FOTO: PRAEFCKE

Ich saz ûf eime steine

und dachte bein mit beine,

dar ûf satzt ich den ellenbogen,

ich hete in mîne hant gesmogen

daz kinne und ein mîn wange.

Dô dâhte ich mir vil ange,

wie man zer welte solte leben. Ich saß auf einem Stein,

und schlug ein Bein über das andere.

Darauf stützte ich den Ellenbogen.

Ich hatte in meine Hand geschmiegt

das Kinn und meine eine Wange.

So erwog ich in aller Eindringlichkeit,

wie man auf dieser Welt zu leben habe.Mit diesen Zeilen beginnt ein Gedicht des mittelalterlichen Dichters Walther von der Vogelweide. Seine genauen Lebensdaten sind nicht bekannt. Er wurde um 1170 geboren, vielleicht in Niederösterreich, er starb um 1230, vielleicht in Würzburg. Walther gilt als der bedeutendste deutschsprachige Lyriker des Mittelalters. In seinem Werk geht es vor allem um philosophisch-politische Themen – und um Liebenslyrik, sprich: Minnelieder. Mit je einem Gedicht aus diesen Bereichen soll der Sänger-Dichter aus alter Zeit hier neu zu Wort kommen – die Fassung im heutigen Deutsch stammt von Walter Wapnewski (1922–2012.)

In den ersten sieben Zeilen des Gedichts »Ich saz ûf eime steine« erzählt der Dichter, dass er mit übergeschlagenen Beinen und mit aufgestütztem Ellenbogen auf einem Stein saß. Das Kinn und eine Wange hat er in eine Hand geschmiegt. In dieser Körperhaltung hat er intensiv nachgedacht, wie man auf dieser Welt zu leben habe.

In dieser Haltung wurde Walther zu einer eindrücklichen Figur des Nachdenkens, so auch ins Bild gesetzt in der großen Heidelberger Liederhandschrift (um 1300). Walthers Sprache klingt deutsch, aber nicht vertraut und zum Teil schwer verständlich. Er schreibt Mittelhochdeutsch, die deutsche Sprache um 1200. Die Dichter versuchen, allgemeinverständlich zu schreiben, neben den vorherrschenden Regionalsprachen – Alemannisch, Bayrisch, Schwäbisch, Fränkisch, Niederdeutsch, Friesisch.

Bedingungen für gutes Leben

 In den Zeilen 8 bis 14 gesteht der Dichter, dass er in der Frage des rechten Lebens keinen Rat geben kann. Er nennt aber doch drei grundlegende Aspekte. Keinen Rat wusste ich zu geben,

wie man drei Dinge erwerben könne,

ohne dass eines von ihnen verloren ginge.

Zwei von ihnen sind Ehre und Besitz,

die einander oft Abbruch tun;

das dritte ist die Gnade Gottes,

weit höher geltend als die beiden andern.

Die wünschte ich in ein Gefäß zu tun. Drei Bedingungen nennt Walther für ein individuell und gesellschaftlich gutes Leben: Erstens »êre«. Das heutige Wort Ehre dürfte den Wortsinn nur zum Teil erfassen. Seinem Kern kann man sich mit Umschreibungen nähern: Ansehen und Prestige, gegenseitige Anerkennung und Respekt, Gerechtigkeit und Würde des Menschen.

Zweitens: »varnde guot«. Hier ist Besitz gemeint, auch in der Form von Einkommen, Lebensunterhalt und Lohn. Beide, êre und varnde guot, fügt Walther hinzu, schaden einander oft sehr.

Drittens: »gotes hulde«. Dieser religiös-theologische Wert gelte weit mehr als die beiden anderen. Mit dem mittelhochdeutschen Wort Huld verbinden sich Freundlichkeit und Wohlwollen, Gunst und Geschenk. Diese Bedeutungen schwingen in »Gnade« als Ausdruck einer intensiven Beziehung zu Gott mit. In einer säkularen Denkweise könnte auch an Verantwortung vor einer umfassenden Orientierungsinstanz gedacht werden.

Mit der Kombination dieser Werte formuliert Walther von der Vogelweide ein lebensphilosophisches Konzept. Er möchte die gebündelten Werte in einem »Schrein« aufbewahren. So gewinnen sie den Rang von Kostbarem, Verehrungswürdigem, von Würde und Anspruch einer zu befolgenden Autorität – Ansehen bei den Menschen, gerechte Lebensverhältnisse, behütendes Gottvertrauen.

Ideal und Wirklichkeit

Wie steht es mit der Umsetzung dieses Lebensplans in der Wirklichkeit? In welcher Zeit lebt der Dichter?Zu unserm Leid kann das nicht sein,

dass Besitz und Ehre in der Welt

und dazu Gottes Gnade

zusammen in ein Herz kommen.

Weg und Steg ist ihnen verbaut,

Verrat lauert im Hinterhalt,

Gewalttat zieht auf der Straße,

Friede und Recht sind todwund:

Bevor diese beiden nicht gesunden,

haben die drei keine Sicherheit.Gewalt und Verrat im Land, unsichere Zustände bei brüchigem Frieden und verletztem Recht, bei solchen gesellschaftlich-politischen Verhältnissen, sagt Walther, kann die skizzierte Wertordnung insgesamt nicht gelebt werden.Welche Wirklichkeit beklagt der Dichter? Meint er die Weltverhältnisse überhaupt oder die seiner Lebenszeit?

Die Gegenwart Walthers ist die Stauferzeit. Das sind rund hundert Jahre von etwa 1150 bis 1250, in der das schwäbische Adelsgeschlecht der Staufer die deutschen Könige stellt, vor allem vertreten durch Friedrich I. »Barbarossa«, seinen Sohn Heinrich VI. und Enkel Friedrich II.

Die deutschen Könige des Mittelalters sind auch Kaiser des »Heiligen Römischen Reiches«, das damals, politisch zerklüftet, von der Nordsee bis Sizilien reichte. Es war die Zeit der Kreuzzüge, vieler Machtkämpfe unter den Fürsten, zwischen Kaiser und Papst. Mit seiner politisch-philosophischen Spruchdichtung griff Walther vor allem in diese Reichspolitik ein. Er ermahnte die Kaiser, ihre Oberhoheit wahrzunehmen, nahm Stellung in Auseinandersetzungen um die Krone, gegen Machtansprüche des Papstes.

In seinem Spruchgedicht »Ich sah mit meinen Augen« etwa lässt er einen Klausner klagen: »Weh, der Papst ist zu jung: Hilf, Herr, deiner Christenheit!« Walther von der Vogelweide ist der erste und bedeutende Dichter politischer Lyrik der deutschen Literatur.

Burgenbau und Städtegründungen

Die Stauferzeit war eine Epoche großer Veränderungen. Burgen wurden gebaut, Städte gegründet, Stadtrechte verliehen, das Rechtssystem reformiert. Zur Kultur an den Fürstenhöfen gehörten auch Literatur und Musik. Minnesänger priesen die höhergestellte Herrin. Auch Walther von der Vogelweide dichtete Lieder dieser sogenannten »Hohen Minne«, einer ritualisierten Liebeslyrik ohne Aussicht auf Erfüllung. Ein Gedicht dieser Art von Walther ist »Nemt, frouwe, disen kranz!«

»Frouwe« bezeichnet im Mittelhochdeutschen eine adlige verheiratete Frau, also eine Herrin. Dies ist die weibliche Form von »frô« – Herr, wie in »Frondienst«: Dienst für den Herrn. Solche Gedichte gehörten zur höfischen Adelskultur.

Walther von der Vogelweide schrieb aber auch Liebesgedichte, in denen die Liebenden zueinander finden – erstaunlicherweise sogar oft aus der Mädchenperspektive. Aus dieser Reihe der »Mädchenlieder« wird hier das Gedicht »Unter den Linden« vorgestellt, eins der schönsten Liebesgedichte der deutschen Literatur überhaupt.

 Unter der Linden

Unter der linden

an der heide,

dâ unser zweier bette was,

dâ muget ir finden

schône beide

gebrochen bluomen unde gras.

Vor dem walde in einem tal,

tandaradei,

schône sanc diu nahtegal.

Ich kam gegangen

zuo der ouwe:

dô was mîn friedel komen ê,

Dâ wart ich empfangen,

hêre frouwe,

daz ich bin saelic iemer mê.

Kuster mich? wol tûsendstunt:

Tandaradei,

seht wie rôt mir ist der munt.

Dô het er gemachet

alsô rîche

von bluomen eine bettestat.

Des wirt noch gelachet

inneclîche,

kumt iemen an daz selbe pfat.

Bî den rôsen er wol mac

tandaradei,

merken wâ mirz houbet lac.

Daz er bî mir laege,

wessez iemen,

(nu enwelle got!) Sô schamt ich mich,

Wes er mit mir pflaege,

niemer niemen

bevinde daz, wan er und ich.

Und ein kleinez vogellîn:

tandaradei,

daz mac wol getriuwe sîn.In dem Gedicht entfaltet Walther das Glück eines erfüllten Liebeserlebnisses, erzählt aus der Erfahrung des Mädchens heraus. Eingebettet in die Natur erscheint der Ort als paradiesischer Garten. In einem Tal am Waldrand auf einer Blumenwiese unter einem Lindenbaum hat der Geliebte ein Lager bereitet. An den niedergedrückten Gräsern und Blumen kann man noch sehen, wo die Liebenden lagen. Dass der Kopf der Geliebten bei den festlich-edlen Rosen lag, steigert die Begegnung zu einem hohen Lebensaugenblick, zu einer »Hoch-Zeit«. Auch an Festmusik fehlt es nicht: Eine Nachtigall singt ihr festlich-lustiges Lied »Tandaradei«.

Liebe als erfüllendes Erlebnis

Das Gedicht wird von einer großen Spannung getragen: Das Mädchen erzählt offen von ihrem Liebeserlebnis, gleichzeitig schirmt sie diese Liebe als höchst persönlichen Bereich des Paares nach außen ab – Offenheit und Intimität gehen hier Hand in Hand. Der »Zeugin Nachtigall« traut die Liebende Verschwiegenheit zu.

Sie erzählt, wie sie begrüßt wurde. Ihr Geliebter war schon da, der Empfang war überwältigend, unvergesslich. Von den körperlichen Berührungen erwähnt sie nur, dass er sie geküsst hat. Schäkernd fragt sie danach – sich?, den Leser? Sie verweist auf ihre roten Lippen. Hier wäre es falsch, »tûsendstund« als rekordverdächtige Zeitangabe zu verstehen. Auch »tausendmal« meint keine Menge, sondern nur allgemein »sehr, sehr oft«.

Mit dem Gedicht entfernt sich Walther weit von der »Hohen Minne«. Eine junge Frau bekennt sich freudig zur Liebe als körperlich-seelischem Gesamterlebnis. »Ich saz ûf einem steine« und »Unter der linden«, diese Gedichte markieren eine weite Spanne im Werk Walthers. Hier der Dichter, der über private und gesellschaftliche Fragen philosophiert und sich sorgenvoll im öffentlich-politischen Leben engagiert – dort der hochsensible Poet, der bewegenden und tief berührenden Lebenserfahrungen Sprache verleiht.

Diese literarischen Zeugnisse können auch nach 800 Jahren interessieren und Freude bereiten. (GEA)