TÜBINGEN. Zuerst liegt die Bühne leicht nebelverhangen im Dunkel. Später dann entdeckt man: Sie zeigt die Ruine eines Rummelplatzes, die zerstörte Kabine einer Jahrmarktsbahn. Weiter hinten steht ein Pferdchen, andere Spielzeuge, die eine abgewrackte Kindheit symbolisieren. Mitten darin drei Schwestern: Sie sind erwachsen, sind unterschiedliche Wege gegangen. Die eine trägt den eleganten Mantel, die zweite bunten Schal und Pulli, Gummistiefel, die dritte schlichte Jacke, dunklen Pullover. Die Mutter tritt nicht auf, zu ihr schauen sie manchmal durchs Schlüsselloch, zum großen Muttertier, das da liegt, schwer atmet und Tabletten aus einer knisternden Verpackung nimmt, Tabletten, die es müde machen.
»Muttertier« von Leo Lorena Wyss erlebte seine Uraufführung vor einem Jahr am Burgtheater Wien. Wyss wurde für ihr Stück ausgezeichnet mit dem Nestroy, dem Wiener Theaterpreis 2024. Sie hat es verfasst »für drei Geschwisterstimmen«, die oft als Chor sprechen, sich dann vereinzeln, klagen, der Mutter Vorwürfe machen, immer wieder zurückgehen in die Kindheit, ihre Mutter beobachten, ohne Worte für ihre Krankheit zu finden. Sie sind mal groß, mal klein, sie kämpfen mit einem Knäuel verworrener, widersprüchlicher Empfindungen. Die Mutter erscheint mal gleichgültig, mal fürsorglich, auf ihre Weise – wenn sie zurückkehrt von der Tankstelle, bei der sie Zigaretten kaufte, und in der Papiertüte, die sie außerdem dabei hat, tatsächlich die Gummischlangen liegen, über die die Töchter sich dann auf dem Rücksitz hermachen dürfen.
Die andere Mutter
»Muttertier« entpuppt sich als ein Stück, das weniger von der Krankheit der Mutter erzählt, als davon, wie die Mutter zur Projektionsfläche für die kindlichen Bedürfnisse wird, und wie diese zuletzt nicht erfüllt werden. In ihrem Innern sind die Schwestern Kinder geblieben. Sie sitzen beisammen, sehen sich alte Filme an, sehen eine Frau, die lachend einen Gang entlangrennt, sehen in ihr die Mutter, fragen sich plötzlich: »Was, wenn sie eigentlich ganz anders sein kann?«
Projektion, Wirklichkeit, Wunschtraum, Erinnerung und Gegenwart überlagern sich im Spielen und Sprechen der Töchter, das die Mutter evoziert. Schließlich werden die Töchter das Zimmer der sterbenden Mutter betreten, ihre letzten Atemzüge erleben – und das allerletzte Wort, das dann ganz im Raum steht, ist einfach nur: »Ich«. Kein Wir mehr, keine Mutter mehr.
Das Glück auf der Titanic
Davor spielen sie Kind, auf immer wieder neue Weise. Sie stopfen sich voll mit Erdnussflips und Gummischlangen, sie werden zur Rasselbande, sie träumen sich hinein in »Titanic«, den Lieblingsfilm, in dem sie sich mit der Mutter vereint fühlen. Sie spielen Szenen nach und diskutieren sie, sind sich plötzlich wieder ganz sicher, dass Gianna Nannini nur ihren Hund meinen kann, wenn sie singt »Bello e impossibile«.
Leo Lorena Wyss hat den Schwestern eine Sprache gegeben, die immer wieder stockt und springt – kindliche Verknappungen stehen neben Schreckmomenten, Wutanfällen: »Verräterin!«, brüllt eine Schwester. Die Schwestern versetzen sich zurück an einen Tag am Meer, gehen Baden mit der Mutter, tragen Schwimmflügel, klammern sich an die Schwimmnudel. Auf den Traum vom Fliegen, am Schiffsbug, wie auf der Titanic (»Der Himmel orange! Knallorange! Pink!«) folgt gleich die Fantasie von der bösen Mutter, die auf einem riesenhaften Fischstäbchen angeritten kommt: »Sie lacht so, wie die Böse eben lacht, wie alle bösen Mütter lachen.«
Abgründig-verspielter Text
Johanna Engel, Fenna Benetz und Seraina Löschau machen sich den energischen, verspielten und abgründigen Text unter der Regie von Magdalena Schönfeld zu eigen. Clara Rosina Straßer schuf für sie den geisterhaften Spielplatz. Die Titanic, das vermeintlich unsinkbare Schiff, das muss die Mutter sein. Aber manchmal ist sie auch der Eisberg. »Wir sind die Königinnen der Welt!«, rufen die Schwestern.
Im Zimmertheater Tübingen wollte man nach der Premiere von »Muttertier« feiern und aktuelle Schwierigkeiten lieber ausblenden. Ganz vergessen blieb freilich nicht, dass der Gemeinderat der Stadt wenige Tage zuvor eine für das Theater fatale Entscheidung traf. Peer Mia Ripberger, Intendant und Autor, deutet an, das nächste Stück des Theaters, das am 2. März Premiere feiern wird, könne den Titel »Sparmaßname« tragen. Sollte die Premiere stattfinden, darf man ihr mit Spannung entgegenblicken. (GEA)