REUTLINGEN. Eine besondere Buchpremiere ging am Sonntagmorgen in der Reutlinger Stadtbibliothek über die Bühne: Vorgestellt wurde der Band »Vom Erzählen. Poesie des Alltags«. Der Autor, Hermann Bausinger, geschätzter Reutlinger Denker und langjähriger Leiter des Ludwig-Uhland-Instituts für empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen, ist im vergangenen November 95-jährig gestorben – zwei Tage nachdem er die Korrekturfahnen seines Buchs beim Verlag abgegeben hatte. Pünktlich wie immer.
Statt des Autors waren viele wichtige Weggefährten Bausingers erschienen. Etwa Ines Martinez. Die Reutlinger Sängerin und Kabarettistin stand schon mit dem Professor für empirische Kulturwissenschaft in einem gemeinsamen Kabarett-Programm auf diversen Bühnen. Den sonnigen Vormittag begleitet sie gemeinsam mit dem Pianisten Klaus Hügel.
Besonders ist aber auch das Buch, welches Brigitte Bausinger, die Witwe des Autors, im Gespräch mit Wolfgang Alber, dem engen Freund und Lektor des Verstorbenen, vorstellt. Zieht es doch ein Resümee des 70-jährigen Forschens Bausingers. Schon in seiner 1952 fertiggestellten Dissertation »Studie über das Leben volkstümlichen Erzählgutes aufgrund von Untersuchungen im nordöstlichen Württemberg« hatte Bausinger sein Lebensthema gefunden.
Detailscharfer Beobachter
Christian Rotta, Verleger der S. Hirzel Verlage, in denen das Buch erschienen ist, stellte Bausinger als »detailscharfen Alltagsbeobachter« vor, als einen »Meister in der Verknüpfung von Anekdote und Analyse«. Bausingers Nach-Nachfolger am Ludwig-Uhland-Institut für empirische Kulturwissenschaften hingegen, Thomas Thiemeyer, wies darauf hin, dass es Bausinger um die soziale Funktion des Erzählens gegangen sei. »Auch das Belanglose ist wichtig, nicht wegen dem Inhalt, sondern wegen der Funktion.«
Wie zum Beispiel in dieser Anekdote aus dem Buch: »Man ist bei einer geselligen Runde im Garten, da klingelt das Telefon und die Gastgeberin eilt ins Haus. ›Ein Handy wäre eben doch praktisch.‹ In dieser Aussage stecken gleich zwei Bewertungen: dass ein Handy etwas Schlechtes aber auch etwas Praktisches ist.«
Der frühere Verleger Bausingers, Hubert Klöpfer, lobt die Zusammenarbeit mit dem Gelehrten in den höchsten Tönen. In seinen Vorlesungen habe er alle fasziniert, er sei ein offener Mensch gewesen, dem es gelungen sei, andere zu begeistern. Und er sei ein außergewöhnlicher Autor gewesen, der nie ideologisch gedacht habe. Einer, der mit Bienenfleiß ein Buch nach dem anderen abgeliefert habe. Immer pünktlich. »Sein Verleger zu sein, war wie ein Fernstudium.«
Überrascht von Lobeshymnen
Brigitte Bausinger, die Witwe des Gelehrten, ist ganz überrumpelt von solchen Lobeshymnen: »Ich bin ganz erstaunt, neben welchem Menschen ich gelebt habe. Der Alltag sah aber anders aus. Er war ja mehr mit dem Computer verheiratet als mit mir.« Dann liest sie aus seinem letzten Buch: »Erzähl keine Märchen« – in dieser Redewendung werde nicht das Märchen kritisiert, sondern die Lüge. Und diese partielle Zuschreibung werde auf die Gattung bezogen: Das Märchen lügt.
Tatsächlich komme es in der Realität eher selten vor, dass Frösche zum Prinzen werden und Teppiche fliegen. »Das Märchen ist strukturell weit weg von der Realität. Dennoch wird es an der Realität gemessen.« Am Ende seien seine Übertreibungen keine Lügen mehr, sondern Stationen auf dem Weg zum Glück: »Der gute Ausgang ist ein Katalysator. Rückblickend erscheint alles wahr.« (GEA)