STUTTGART. Im Grunde war es eine Reihung von Höhepunkten, dieses Eclat-Festival für Neue Musik am Stuttgarter Theaterhaus. Vom rauschhaften Alex-Paxton-Werk zu Beginn über das Orchesterkonzert am Donnerstag, das SWR Vokalensemble am Freitag bis zum Preisträgerkonzert des Kompositionspreises der Stadt Stuttgart am Sonntag. Mittendrin der Samstag als eigentlicher Marathontag. Im Prinzip wäre es da schon um 13.30 Uhr losgegangen, mit einer »performativen Video-Klang-Dichtung« zum kyrillischen Alphabet. Das haben wir uns zugunsten der Nahrungsaufnahme verkniffen. Was eine weise Entscheidung war, entpuppte sich doch die geregelte Kohlenhydrat- und Koffeinzufuhr als herausfordernd angesichts der engen Taktung.
Stille Meditation der Bratsche
Los ging's für uns mit dem Solobratscher Marco Fusi und einem so innerlichen Strom leiser Schabegeräusche in einem Stück von Timothy McCormack, dass das Ganze einer 40-minütigen Zen-Meditation glich. Quasi der Gegenpol zum fröhlichen Punkrock-Getöse, das den Festivaltag kurz vor Mitternacht beschließen sollte. Dazwischen feierten die Neuen Vocalsolisten ihr 25-jähriges Bestehen gleich doppelt. Unterbrochen von einem Streichquartett-Auftritt, der in der Mitte dieses Konzertstapels klemmte wie das zentrale Salatblatt in einem Vierfach-Cheesburger.
Zunächst aber Marco Fusi mit McCormacks endloser Summ-und-Schab-Monodie. Was gleich schon einen Trend markiert. Wispernd ins Weite meditierende Klangbänder gibt's viele an diesem Tag. Später etwa in Streichquartettform vom Fabrik Quartet: erst in »Aeris« von Kathrin A. Denner mit Klangschalen-Glockentönen, die den Hörer in eine japanische Tempelsphäre versetzen; danach von der Iranerin Bahar Royaee in »Memories of a Stone Sitting under the Skin of the Water on the Lake«, also: »Erinnerungen an einen Stein unter der Oberfläche des Wassers eines Sees«. Da weiß man wenigstens, über welches Bild man zu meditieren hat.
Anklänge an die Romantik
Die Zeit der kurzen, prägnanten Klangereignisse, wie sie die Nachkriegs-Avantgarde geprägt haben, ist offenbar vorbei. Sie hallen nach in den funkelnden Miniaturen des italienischen Altmeisters Salvatore Sciarrino, famos gespielt von Bratscher Marco Fusi: Flageoletts wie ein Dialog fiepender Möwen, die sich zwischendurch kreischend um einen Fisch streiten. Ansonsten scheint es oft, als sei die Sehnsucht der Romantiker nach dem Dunklen, Entgrenzten, der endlosen Melodie zurückgekehrt. Nur halt mit anderer Klanglichkeit. Womöglich träumt man sich in Zeiten realer und gefühlter Krisen gern weg ins Weite.
Vielleicht häufen sich ja deshalb hier die Auseinandersetzungen mit Musik der Romantik. Sebastian Claren verarbeitet ein Brahms-Streichquartett, indem er es unfassbar beschleunigt. Respekt, wie das Federico Ceppetelli und Mishi Stern (Violinen), Jacobo Díaz Robledillo (Viola) und Elena Cappelletti (Cello) vom Fabrik Quartet umsetzen. Luxa Mart*in Schüttler macht es genau andersrum, indem er die Neuen Vocalsolisten ein Eichendorff-Lied von Hugo Wolf in extrem verlangsamten Akkordblöcken absingen lässt. Dazu stirbt im Video ein Stück Wald als Spiegelung im See. Mehr Nacht-umfange-mich-Romantik geht nicht.
Wie flatternde Fledermäuse
Andere greifen die Gefühlswelt der Romantik indirekter auf. Zihan Wu spielt in ihrem Stück »Die kleinen Knochen« mit dem Unheimlichen. Gezupfte Streichquartettklänge flattern im elektronischen Raum weiter wie Fledermäuse durch die Nacht. Elena Rykova wiederum macht die Neuen Vocalsolisten im Schummerlicht zu Schamanen des Klangs.
Humor und Ironie gibt's aber auch. In einem Stück von Bernhard Lang poltert Neue-Vocalsolisten-Bassist Andreas Fischer Nonsens-Silben in Wahlkampf-Manier – eine herrliche Politiker-Persiflage. Zumal umschwirrt von der Kontrabassklarinette Theo Nabichts. Countertenor Daniel Gloger, ebenfalls von den Neuen Vocalsolisten, verwandelt sich auf der Bühne in einen Superhelden im hautengen Himmeldress. Um mit Roboterstimme ein Traktat zur Finanzökonomie zu rezitieren, während aus dem Off die freundliche Stimme Hannibal Lecters aus »Das Schweigen der Lämmer« tönt. Ein Stück von Uwe Rasch, das wie Langs Persiflage über Slapstick nicht wirklich hinauskommt.
Opfer des Neue-Musik-Systems
Anders als Kuba Krzewinski, der in »Trigger Warning« zwei Insider der Neue-Musik-Szene zu Wort kommen lässt. Ihre Aussagen tragen zwei Freiwillige aus dem Publikum vor, auf Englisch – übersetzt wird an diesem Festivaltag nichts. Beide Interviewten, eine Kritikerin und ein junger Komponist, hatten mit Burnouts zu kämpfen. Ein selbstkritischer Blick auf ein Neue-Musik-System, das seine Akteure verschleißt.
Spät am Abend trifft in »Digital Blood« von Annesley Black das Rock-Trio Kinky Muppet auf das Neue-Musik-Quartett The Nubes. Man singt A-cappella-Folksongs, macht tolle Rockmusik, streift nur kurz die Neue Musik und lässt wundersame Fantasiefiguren auflaufen, vom Champignon-Paar bis zum wandelnden Baum. Man fühlt sich wie in Alice in einem Wunderland, in dem die Macht des Digitalen lebende Wesen in Roboter verwandelt. Märchenhafte KI-Kritik, gepackt in Rock und zarte Balladen. Was für ein Ausklang. (GEA)