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Von Einsamkeit und Gemeinschaft: »Tanzt!« an der Reutlinger Tonne

Was bedeutet Gemeinschaft, was Einsamkeit? 40 Menschen aus der Region drücken das gemeinsam mit vier Profis in einem Tanztheaterstück aus, das sie mit dem Choreografen James Sutherland an der Reutlinger Tonne erarbeitet haben. Das Ergebnis: beeindruckend.

Faszinierende Bilder: Szene aus dem Tanztheaterstück »Tanzt!« an der Reutlinger Tonne.
Faszinierende Bilder: Szene aus dem Tanztheaterstück »Tanzt!« an der Reutlinger Tonne. Foto: Beate Armbruster
Faszinierende Bilder: Szene aus dem Tanztheaterstück »Tanzt!« an der Reutlinger Tonne.
Foto: Beate Armbruster

REUTLINGEN. Der Ton wird rauer auf dem Globus. Den mächtigsten Staat der Welt regiert ein Horrorclown, sein Pendant in Russland hat keine Lust auf Frieden und in Deutschland grassiert die Angst vor der Überfremdung. Gruppen rücken zusammen, Klüfte vertiefen sich, dazwischen nimmt die Vereinzelung zu – und die Einsamkeit. Was macht das mit uns? Ist Gemeinschaft und Solidarität überhaupt noch möglich?

Der in Pforzheim lebende Choreograf James Sutherland, lange Ballettchef am dortigen Theater, hat diese Fragen in ein Tanzstück für die Reutlinger Tonne gepackt. Und dazu jene mit auf die Bühne geholt, die es betrifft: ganz normale Bürger aus der Region – Kinder, Senioren, Frauen, Männer. Menschen mit Behinderung und ohne, mit asiatischem, europäischem, afrikanischem Hintergrund.

Fünf Monate Vorbereitung

Fünf Monate hat man geübt, jeden Samstag in der Turnhalle der Eichendorff-Realschule. Nun stehen sie im Tonne-Saal 1 und wärmen sich auf: die 40 Laienteilnehmer und die vier Profitänzer, zwei Frauen, zwei Männer. Es sind noch zehn Minuten bis zum offiziellen Beginn, das Publikum sucht seine Plätze, auf der Spielfläche wirkt es wie im Pilates-Kurs: James Sutherland steht vorn, macht vor, gibt Kommandos. Drehen, Beugen, Ausfallschritt, Arme fliegen lassen. »Spürt die Energie! Spürt euren Atem!«

Um acht hört nicht etwa das Aufwärmen auf und das Stück fängt an, sondern das eine driftet unmerklich ins andere. Sutherland lässt die Schar durch den Raum gehen, ruft »Stopp!«, korrigiert, nochmal das Ganze, »Schon besser!« Weg ist der Choreograf und das Spiel vollzieht sich weiter, nun mit »Hey!«-Rufen aus dem Ensemble, die das Gewusel einfrieren. Schon ist man im Thema. 40 Individuen formieren sich zur gemeinsamen Aktion, werden zur Einheit.

Aus Individuen formt sich ein Ganzes: Das Ensemble von »Tanzt!« in einer Szene des Stücks.
Aus Individuen formt sich ein Ganzes: Das Ensemble von »Tanzt!« in einer Szene des Stücks. Foto: Beater Armbruster
Aus Individuen formt sich ein Ganzes: Das Ensemble von »Tanzt!« in einer Szene des Stücks.
Foto: Beater Armbruster

So entstehen beeindruckende Bilder, die menschliche Aktion als ineinander verwobenes Ganzes erscheinen lassen. Dem großen Gewebe stellt das Stück die individuelle Begegnung gegenüber. Anfangs sind es drei der Profitänzer, von denen jeder mit einem Kind interagiert. Zwei Mädchen und ein Junge schauen sich von ihren Profipartnern spielerisch ganze Bewegungsfolgen ab. Verblüffend, wie sich vor den Augen der Zuschauer aus dem Nichts kleine Choreografien entwickeln, samt Hebefiguren, Drehungen, Bodenaktionen. Choreografien, die einige Minuten später als Soloteile im Stück wieder auftauchen.

So gleitet das Stück im Wechsel von Soli und Ensembleteilen dahin, steigert sich aus tastenden Anfängen zu immer impulsiverer Energie. Zu Musik aus dem Off, die erst sanfter Klangteppich ist, sich nach und nach mit Rhythmik auflädt. Bis arabische Trommeln ekstatisch die Stimme einer Sängerin tragen. Feier einer Kulturen übergreifenden Gemeinschaft.

Die Stimmung kippt

Dann der Umschlag. Es wird dunkel, die Bühnenhinterwand reißt auf, grelles Gegenlicht blendet, eine düstere, bedrohliche Atmosphäre. Elektronische Klänge dröhnen, blitzlichtartig wechseln als Projektion die Gesichter der Beteiligten. Das Bewegungsvokabular, bis dahin geschmeidig, ist nun eckig, zuckend. Die vier Profitänzer werfen sich als Solisten in bizarr-akrobatische Soli, wie geschüttelt von Panik. Das Ensemble im Hintergrund ist nicht mehr solidarische Gemeinschaft, sondern klammernde Masse. Wie Zombies stapfen sie durchs Zwielicht, das von Stroboskop-Blitzen durchzuckt wird. Aus dem Off dringen dunkle, klagende Chorstimmen, Musik wie ein modernes Requiem. Ein Requiem in der Tat: Die Klänge stammen aus dem Pulitzerpreis-gekrönten Oratorium »Anthracite Fields« der US-Komponistin Julia Wolfe, das sie den Opfern eines Unglücks in den Anthrazitkohleminen von Pennsylvania gewidmet hat.

Es ist die Trauer dieser Musik, die hilft, die Vereinzelung zu überwinden. Als alle am Boden liegen, alles verloren scheint, wird Begegnung wieder möglich. Einer hilft dem anderen auf, ein berührendes Bild menschlicher Nähe. Gekrönt von einem begeisternden Duo des Profitänzers Davide Benigni mit dem rollstuhlfahrenden Santiago Österle. Die sich beide in ihren Bewegungen ergänzen, obgleich ihre Voraussetzungen völlig unterschiedlich sind.

Berührendes Duo: Santiago Österle und Davide Benigni in dem Tanztheaterstück »Tanzt!« von James Sutherland.
Berührendes Duo: Santiago Österle und Davide Benigni in dem Tanztheaterstück »Tanzt!« von James Sutherland. Foto: Beate Armbruster
Berührendes Duo: Santiago Österle und Davide Benigni in dem Tanztheaterstück »Tanzt!« von James Sutherland.
Foto: Beate Armbruster

Es ist ein kleines Wunder, was James Sutherland und sein Assistent Davide Degano in diesen fünf Monaten mit diesen Laien erarbeitet haben. Man konnte jede Menge beeindruckende Bewegungstalente bewundern. Faszinierende Bilder in den Gruppenchoreografien. Verblüffende Einzelleistungen in den solistischen Teilen. Dazu die vier Profitänzer, die das Thema von Begegnung und Vereinzelung in teils schwindelerregende, äußerst ausdrucksstarke Bewegungssequenzen packten: Davide Benigni, Martina Chavez, Rebecca Maguolo und Alessio Marchini. Alle vier brachten Besonderes in die Aufführung: Benigni seinen verspielten Übermut, Maguolo ihre explosive Energie, Marchini seine kraftvolle Eleganz und Chavez ihre in sich gekehrte Geschmeidigkeit, die in einem stillen Solo ganz ohne jede Musik gipfelte.

Eine beeindruckende und bewegende Produktion, die noch am 18., 19., 22., 23., 28., 29. und 30. März zu sehen ist. Die Vorstellungen am 18. und 19. März sind der Homepage zufolge bereits ausgebucht. (GEA)