REUTLINGEN. Mai 1945 – der Größenwahn der Nationalsozialis ten hat eine Trümmerlandschaft hinterlassen, auch in Reutlingen. Es fehlt an Wohnraum, Nahrung, Kleidung, eine enorme Zahl an Flüchtlingen ist zu versorgen. Man sollte meinen, dass in dieser Situation alles im Vordergrund steht, nur nicht die Kultur. Und doch ist eines der ersten Dinge, die in Reutlingen nach der Kapitulation passieren, dass man ein Sinfonieorchester gründet. Die Geburtsstunde der Württembergischen Philharmonie Reutlingen, die vor 1983 »Schwäbisches Symphonieorchester« hieß und ganz zu Beginn »Städtisches Symphonieorchester«.
Das klingt bizarr, aber man muss sich in die Situation versetzen. Das heroische Deutschtum der Nationalsozialisten war diskreditiert, zudem gab es nach Jahren von Krieg und Rassenwahn eine enorme Sehnsucht nach Normalität. Die Suche nach Normalität wie nach unbelasteten Identitätsankern, führte in die kulturellen Sphären der Vor-NS-Zeit.
- Kulturwunder der 1950er
So ist es nicht verwunderlich, dass mit dem Wirtschaftswunder auch ein Kulturwunder einherging. Dass es ein solches gab, lässt sich daran ablesen, dass die Konzerte des Orchesters von Beginn an gut besucht waren – erst wegen der zerbombten Listhalle im Kinosaal des Olympia-Theaters. Auch daran, dass Reutlinger Großbetriebe das Orchester durch Kartenkontingente für ihre Mitarbeiter stützten, den sogenannten »Werkkonzerten«, Vorläufer der Kaleidoskop-Reihe.
- Werkkonzerte, Theatergründung
Bezeichnend, dass bereits 1945 in Tübingen auch ein städtisches Theater gegründet wurde. Aus dem in Kooperation mit Reutlingen 1950 das LTT hervorging. Als der GEA 1949 wieder erscheinen konnte, gab es demnach für die Feuilletonseite von Beginn an genügend zu berichten. Der Kulturboom setzte sich in den 1950ern munter fort. Sinfonie- und Werkkonzerte erlebten enormen Zulauf, man zählte in der Spielzeit 1959/60 annähernd 100.000 Besucher. In den 1950ern wurde zudem das Tonne-Theater gegründet, auf Anregung des Eninger Künstlers HAP Grieshaber, zunächst in einem Keller in der Gartenstraße 5, ehe man in den Spitalhofkeller zog. Mit Persönlichkeiten wie Grieshaber, Winand Victor, Gudrun Irene Widmann, Gudrun Krüger, später Gude Schaal und Lothar Schall besaßen Reutlingen und die Region eine starke Künstlerriege. In Tübingen sammelte sich die Kunstszene um Bildhauer Ugge Bärtle.
- Kunst- und Literaturstadt
Reutlingen wurde in den 1950ern jedoch auch zum Literaten-Standort. Im Atelier Winand Victors traf sich von 1954 an die sogenannte Telegram-Gruppe, zu der Autoren wie Dietrich Kirsch, Günter Bruno Fuchs oder Richard Salis gehörten, aber auch Maler wie Fritz Ketz oder Victor. Die literarischen Blätter, grafisch gestaltet in kleinen Auflagen, fanden selbst bei Stars der Wortkunst wie Hermann Hesse oder Martin Buber Gefallen.
- Einfluss des PH-Standorts
Auch der Komponist und Musikprofessor Karl Michael Komma verkehrte in diesem Reutlinger Intellektuellenzirkel. Und Gerd Gaiser, dessen Roman »Schlußball« Berühmtheit erlangte. Der Autor und Maler lehrte Kunsterziehung an der Pädagogischen Hochschule Reutlingen. Die PH war bis zu ihrer Verlegung nach Ludwigsburg wichtiges Reservoir für Geistesgrößen. Auch der Musikexperte Eberhard Stiefel, lange Jahre Klassikrezensent des GEA, lehrte dort. Ebenso die Literaturspezialisten Theodor Karst und Reinbert Tabbert, die ebenfalls für den GEA schrieben.
- Kulturaufbruch der Jugend
Die 1950er waren jedoch auch Zeit des Kulturaufbruchs der Jugend. Erich Reustlen gründete die Junge Sinfonie als zweitältestes autonomes Jugendorchester. Zu Beginn der 1960er-Jahre schossen als Teil der studentischen Jugendkultur die Jazzkeller wie die Pilze aus dem Boden. Fünf Stück zählte man zeitweise in Reutlingen. Übrig geblieben davon ist die »Mitte«.
- Rock- und Punkbewegung
Mit der 68er-Studentenrevolte bekam die Jugendkultur ein neues Gesicht. Pop und Rock statt Jazz, gefeiert wurde in autonomen Jugendzentren wie der »Zelle«. Letztlich blieb nur die Zelle selbstverwaltet übrig. Die Punkbewegung gab der Jugendbewegung in den 1970ern Schub. Wobei es die Rockszene lange schwer hatte in Reutlingen. Es fehlte an Spielstätten. An Versuchen, die gediegene Listhalle zum Rockschauplatz zu machen, waren in den 80ern/90ern selbst Stadt und GEA mit großen Band-Contests beteiligt. Das setzte sich nicht durch. Erst das franz.K und schließlich der Echaz-Hafen machten Reutlingen zum wirklichen Rockstandort.
- Ära der Kulturbauten
Die 1980er waren das Jahrzehnt der großen Kulturbauten. Die Stadtbibliothek wurde errichtet, das Haus der VHS. Die Wandel-Fabrik wurde zur Stiftung für konkrete Kunst, das Spendhaus zum Kunstmuseum. Eine zweite Welle von Kulturbauten folgte von 2008 an mit der Umsetzung der Kulturkonzeption: nacheinander nahmen das Soziokulturzentrum franz.K, die Stadthalle und der Theaterneubau für die Tonne Gestalt an.
- Lebendig trotz Wandel
Die Kulturszene in Reutlingen und der Region, sie hat sich gewandelt – der neue Kulturelan der Nachkriegszeit ist jedoch erfreulicherweise nie abgerissen. Immer gab es neue Initiativen, auch wenn oft das Geld knapp war. Dringend bräuchte es ein Kunst-Depot in Reutlingen, dringend bräuchte es einen Service- und Empfangsbereich für die Wandel-Hallen mit seinem einzigartigen Schatz an Kunsteinrichtungen. Und doch ist das Kulturleben der Region weiterhin enorm vielfältig und lebendig. Den GEA-Rezensenten geht der Stoff so schnell nicht aus. (GEA)