Logo
Aktuell Ballett

Vollendetes Tanzdrama: John Neumeiers »Anna Karenina« in Stuttgart

Einen viele hundert Seiten starken Tolstoi-Roman als Ballett zu gestalten? Geht das? Altmeister John Neumeier ist in Stuttgart das Wagnis eingegangen. Ob es geklappt hat?

Bezwingend: Miriam Kacerova (Anna) und Martí Paixà (Graf Wronski).
Bezwingend: Miriam Kacerova (Anna) und Martí Paixà (Graf Wronski). Foto: Roman Novitzky
Bezwingend: Miriam Kacerova (Anna) und Martí Paixà (Graf Wronski).
Foto: Roman Novitzky

STUTTGART. Jetzt ist er also wieder an den Ausgangspunkt seiner steilen Karriere zurückgekehrt: der noch als 85-jähriger international gefragte Grandseigneur des Tanztheaters John Neumeier. 1963 begann er am Stuttgarter Ballett, stieg dort unter John Cranko zum Solisten auf. Schon wenige Jahre später hatte er es zum Ballettdirektor in Frankfurt gebracht, und von 1973 bis 2024 führte er das Hamburg Ballett auf den schmalen Gipfel der Weltklasse.

Parallel zu Hamburg hielt jedoch genauso die Stuttgarter Compagnie nach Crankos tragisch frühem Tod bis heute ihr Spitzenniveau, weswegen an die Gastchoreografie des Hamburger Meisters in Stuttgart sehr hohe Erwartungen geknüpft waren. Wobei es Neumeier und das Stuttgarter Ballett verstanden, mit »Anna Karenina« nach dem Roman von Leo Tolstoi höchste Ansprüche sogar noch zu übertreffen.

Bezüge zu Trumps Wiederwahl

Neumeier hatte sich schon 2017 in Hamburg mit diesem Sujet beschäftigt, wenige Monate nach dem ersten Amtsantritt von Donald Trump als US-Präsident. Was ihn dazu veranlasste, Anna Kareninas Ehemann Alexej als einen Spitzenpolitiker zu zeigen, der um seine Wiederwahl kämpft. Was jetzt, acht Jahre später, für die Stuttgarter Erstaufführung noch geschärfter hervortritt.

Eine kreischende Menge von Anhängern feuert Alexej an, der mit zackigen Bewegungen seine Abneigung gegenüber Andersdenkenden zum Ausdruck bringt und mit herrischen Gesten seinen Machtanspruch unterstreicht. David Moore durchdringt dies mit einer Körpersprache, die schaudern macht.

Präzise agierendes Ensemble

Eine Meute von Paparazzi – das Stuttgarter Ballettensemble und die Eleven der John Cranko Schule agieren hier wie in allen Gruppen-Szenen mit der Präzision eines Uhrwerks – stürzt sich auf das Erscheinen von Anna, die Alexej als Dekor für seine Pressebilder ohne menschliche Regung ausnutzt. Wie er sich überhaupt gegenüber dem Liebreiz seiner Frau gleichgültig zeigt. Weshalb sie auch zu den melancholischen Fagottklängen von Tschaikowskis Suite op. 43 einsam in Gram und Isolation schmachtet. Was sie anfällig macht für die – natürlich nicht ernst gemeinten – Avancen des Grafen Wronski. Worauf das Drama seinen tödlichen Lauf nimmt.

Neumeier vermeidet es bewusst, Tolstois Roman in der Art einer Verfilmung nachzuerzählen. Er erarbeitet aus den tragenden Handlungsmomenten und mit den zentralen Personen des Romans ein dichtes Geflecht, bei dem der Figur des verunglückten Bahnarbeiters besondere Bedeutung zukommt. Schon bei Tolstoi gilt der Unfall für Anna als ein böses Omen. Bei Neumeier wird der Arbeiter zum Dämon im Unterbewusstsein von Wronski gleichermaßen wie von Anna. Zu den entzückenden Klängen von Tschaikowskis »Souvenir de Florence« möchte das Paar eigentlich seiner Amour fou in Italien frönen, doch der Arbeiter greift erst nach ihr, dann nach ihm, lässt sie nicht zur Ruhe kommen. Jason Reilly tanzt diesen Ungeist mit faszinierender Ausdrucksstärke.

Verstricktes Beziehungsgeflecht

Wie auch das Protagonisten-Paar selbst auf fulminante Weise sein Ineinander- Verstrickt-Sein gestaltet. Wobei Neumeier deutlich werden lässt, dass die Beziehung zwischen Anna und Wronski auf genauso tönernen Füßen steht wie schon zuvor jene des Ehepaars Karenin. Martí Paixàs starke Hebefiguren und weite Sprünge strahlen Dominanz aus, kontrastiert von einer Leichtigkeit der Zwischenschritte, welche andeuten, dass er mit den Gefühlen von Anna eben doch nur spielt. Miriam Kacerova wiederum setzt ihre ganze Leidenschaft in diese Figur, zeigt die Lauterkeit ihrer Gefühle, macht Anmut und Hingabe deutlich. Wie sie sich genauso glaubhaft zu Alfred Schnittkes brachialen Klängen aus »Wanderung der Verdammten« unter Schmerzen windet, wenn sie ihr von Wronski empfangenes Kind zur Welt bringt.

Aufführungsinfo

Die nächsten Aufführungen von »Anna Karenina« am Stuttgarter Opernhaus sind am 20., 26. und 27. März sowie am 2., 3., 4., 10., 15. und 17. Mai. (GEA)
www.stuttgarter-ballett.de/spielplan/a-z/anna-karenina/

Die übrigen Figuren sind mit hoher Sinnfälligkeit platziert und durchweg stupend umgesetzt. Als Kitty, mit der Wronski eigentlich verlobt ist, versprüht Yana Peneva mädchenhafte Vorfreude auf ihre Ehe. Bis sie in einem in all seinen emotionalen Verästelungen in Bewegung geführten Valse triste erkennt, dass sie der Graf links liegen lässt. Und sie im Landmann Lewin ihren wahrhaftigen Partner findet, dessen linkisches Auftreten Matteo Miccini brillant tanzt und spielt.

Das durchweg fantastische Ensemble setzte Neumeiers Meisterschaft großartig um, mit frappierender Selbstverständlichkeit tänzerische Figuren in unterschiedlichste Konstellationen zusammenzuführen und in Varianten wieder auseinanderfließen zu lassen. Wobei ein abendfüllendes Tanzdrama als durchkomponiertes Gesamtkunstwerk aus Musik, Licht, Farbe und Bewegung Gestalt annimmt, wozu auch der ausgezeichnete Dirigent Mikhail Agrest am Pult des geradezu brillanten Stuttgarter Staatsorchesters gewichtig beigetragen hat. Das enthusiasmierte Publikum reagierte mit minutenlangen Standing Ovations. (GEA)