REUTLINGEN. Ein experimentierfreudiger Joseph Haydn, ein in Zeiten des Faschismus um künstlerische Integrität ringender Karl Amadeus Hartmann und ein von Schottland beeindruckter Felix Mendelssohn Bartholdy waren im jüngsten Sinfoniekonzert der Württembergischen Philharmonie zu erleben. In der Reutlinger Stadthalle sorgten die Geigerin Veronika Eberle und der Dirigent Alexander Liebreich mit dem Orchester für Glanzpunkte. Die allerdings auch Trauriges offenbarten.
Zwar geht der Beiname »Trauersinfonie« der Sinfonie Nr. 44 nicht auf Haydn selbst zurück, die Tonart e-Moll darf für die Entstehungszeit aber als Besonderheit angesehen werden. Auch erreicht das Werk - etwa mit expressiver Chromatik und Vorhaltsbildungen, dem Einsatz gedämpfter Violinen - eine selten vorher erreichte Stärke der gefühlsmäßigen Intensität, wie die Musikwissenschaft hervorhebt.
Spiel mit den Taktschwerpunkten
Liebreich, Musikdirektor des Orquestra de València und designierter Chefdirigent des Taipei Symphony Orchestra, kostet mit dem Orchester die Kontrapunktik und kontrastreichen Wechsel der Sinfonie aus, sorgt für steten Bewegungsfluss, für eine Wiedergabe mit Seele und, wo die Partitur es nicht verlangt, so doch nahelegt, robustem Charakter. Stimmführung im Unisono, harmonische Ambivalenz, fragmentarische Gliederung - damit überzeugt Haydn im Kopfsatz. Im an zweiter Stelle stehenden Menuett verleiht das Orchester dem strengen Oktave-Kanon, der nur im nach Es-Dur gewendeten Trio aufgebrochen wird, tänzerische Schwermut. Hinzu kommen ein anspruchsvolles Hornsolo in der hohen Lage und ein faszinierendes Spiel mit den Taktschwerpunkten.
Der feierliche Charakter des Adagios in dieser Sinfonie - lediglich die Reprise streift zu Beginn dunklere Regionen - ist beim Reutlinger Konzert gut getroffen. Genauso das Ruppig-Kecke des Finales, in dem ein dramatischer Abschnitt, der durch energische Tremoli der Violinen, Sforzati sowie große Intervallsprünge gekennzeichnet ist, einen vorübergehenden Stimmungswandel bringt. Ansonsten ist das eine Musik, die stellenweise erstaunlich modern klingt. Und fetzt.
Musik der Trauer
Veronika Eberle war schon zu Gast bei der Württembergischen Philharmonie, bevor sie als 16-Jährige bei den Salzburger Osterfestspielen 2006 groß herauskam (sie spielte dort mit den von Simon Rattle geleiteten Berliner Philharmonikern das Beethoven-Violinkonzert). Nun ist die gebürtige Donauwörtherin mit ihrer von der Reinhold Würth Musikstiftung zur Verfügung gestellten Stradivari »Ries« nach Reutlingen gekommen, um Karl Amadeus Hartmanns 1940 in St. Gallen unter dem Titel »Musik der Trauer« uraufgeführtes »Concerto funèbre« in der leicht überarbeiteten Fassung aus dem Jahr 1959 zu spielen.
Ein Werk, das tiefen Eindruck hinterlässt, was nicht zuletzt an der eindringlichen Interpretation durch Veronika Eberle und die Württembergische Philharmonie liegt. Sphärische Klänge, ein fahler, fast gestammelter Einsatz der Solovioline. Wie heimlich gewispert erscheint der Hussitenchoral »Die ihr Gottes Streiter seid«, Symbol des jahrhundertealten Freiheitskampfs der Tschechen. Der gebürtige Münchner Hartmann komponierte das Konzert unter dem Eindruck der Annexion des Sudetenlandes durch die Deutschen. Seine Musik ist eine Klage. Eine, die in Chorälen Hoffnung formuliert, die vor allem aber auch Schmerz und Verzweiflung greifbar macht. Der Komponist, der Deutschland unter Adolf Hitler nicht verließ, verstand seine Musik als »Bekenntnis« und »Gegenaktion«, hatte schon 1934 das Werk »Miserae« für die frühesten Opfer des Konzentrationslagers Dachau geschrieben.
Schroffe Dissonanzen
Nun ist es eine Geigerin im Hier und Jetzt, die zwischen schroffen Dissonanzen auf berührende Weise Melancholie zum Ausdruck bringt, von Freiheit und Würde, die mit Füßen getreten werden, zu erzählen scheint. Aber auch von künstlerischer Integrität und innerer Haltung. In einem feierlichen Trauermarsch klingt ein russisches Revolutionslied von 1905 an.
Der begeisterte Applaus am Ende der Darbietung will kein Ende nehmen. Das Publikum würdigt damit nicht zuletzt die reife Künstlerpersönlichkeit Veronika Eberle. Die sich mit einem kunstvoll-knappen »Happy Birthday« bei Dirigent Liebreich bedankt, der tags zuvor Geburtstag hatte.
Welt der Stürme und des Nebels
Nach der Pause entführt das Orchester mit Mendelssohns Sinfonie Nr. 3 a-Moll op. 56 »Schottische« kantig und warm, temperamentvoll und atmosphärisch in eine Welt der Stürme und des Nebels. Die Holzbläser lassen es funkeln. Die Soloklarinette ist mit einem quirligen, volkstümlich-fröhlichen Thema zu hören, die Celli bezaubern mit Wellenbewegungen. Aus den Violinen erklingen scharfe Doppelpunktierungen. Es wird geraunt, gerungen, gesungen und geträumt. Auch hier gibt es Trauermarsch-Anklänge. Und Musik gewordene hymnische Majestät, die das gewaltige Spiel der Elemente, die Erhabenheit der Landschaft meint. Auch das wird mit reichem Applaus des Publikums belohnt. (GEA)