REUTLINGEN. Sie dürfen sich schon ein bisschen auf die Schulter klopfen, Andi Stahl und Matthias Günzler, dass ihr Takt Bizarre Festival am Samstagabend rund 300 Dark-Wave-Fans ins franz.K gelockt hat. Obwohl zeitgleich mehrere andere Festivals des Genres liefen. Umso beachtlicher, als ihnen krankheitsbedingt kurzfristig der Headliner Girls Under Glass verlustig gegangen war. Den am Ende jedoch kaum jemand vermisste nach der irren Show, die ersatzweise das Pariser Trio Je t'aime abzog.
Überhaupt: Sie hatten mal wieder höchst individuelle Acts nach Reutlingen geholt, die beiden Festivalmacher. Acts, die ein in schwarze Shirts, hier und da auch schwarze Mieder und Netzstrumpfhosen gewandetes Publikum in - nomen est omen - dunkel-bizarre Welten eintauchen ließen.
Surreale Schwarz-Weiß-Videos
Aus gutem Grund stand das Ludwigsburger Duo Mensch:Maschine am Anfang - führten sie doch in die Urgründe des Dark Wave zurück. Bei ihnen pulsiert der industrielle Sound der 1980er, stahlgehämmert und von der Kultgruppe Kraftwerk inspiriert. Dazu kommt das Raue des Punk, das Obskure der raunenden Stimme von Sänger Chewie Sakura und die klagende Melodik der E-Gitarre von DJ Moers.
Die Klangkulisse des Duos ist nah an EBM gebaut, der Electronic Body Music der 1980er, mit geshouteten Vocals, rauen, wilden, den ganzen Körper schüttelnden Beats. Aus dem Krachen dieser Industriesphäre schälen sich Bilder seelischer Abgründe. Kunstvolle Videos spielen auf die surrealistischen Streifen von Luis Buñuel an. Fliegen krabbeln über nackte Haut, eine Frau gräbt die Hände in torfigen Waldboden, ein Messermann verbreitet Horror, ein kleines Mädchen bringt einem gorillaartigen Butler das Tanzen bei. Das Publikum tanzt zu einer Stimmung, die aus Faszination und Alpträumen der 1920er schöpft, während Chewie Sakura im Ersten-Weltkriegs-Mantel an den Synthieknöpfen dreht.
Valettes Underground-Party
Die Überraschung des Abends ist der Pariser Sydney Valette, den vorher kaum einer kannte. Die komplexen Rhythmen, die er den Reglern und Tasten seiner Elektronik entlockt, bringen auch den letzten im Saal in Bewegung. Valette selbst zuckt im Takt, biegt sich wie Gummi, schickt schwebende Vocals in den Raum, irgendwo zwischen Pop und Geisteranrufung - unwiderstehlich.
Zanias, das Soloprojekt von Linea-Aspera-Sängerin Alison Lewis, ist auf eine Art dazu recht ähnlich, auf eine andere völlig konträr. Auch sie lässt ihre Stimme sphärisch über pulsierenden Elektronikbeats schweben - zu denen hier noch eine löwenmähnige Live-Bassistin beiträgt. Und doch ist ihre Performance nicht so sehr mitreißende Underground-Party wie bei Valette, sondern wundersames Avantgarde-Kunstwerk. Lewis steckt in einem knallblauen Jumpsuite mit glitzernd wallendem Nixenüberwurf und gibt abwechseln die mystische Technopriesterin und den entfesselt springenden Gummiball. Kompliment an die Lichttechniker, die dazu immer neue Farben und Stimmungen zaubern.
Zusammen mit der wild jammenden Bassistin und mystischen Unterwasservisuals ergibt das eine einzigartige Atmosphäre zwischen Feierlichkeit und Exzess. Unterstrichen von Trommelschlägen der Sängerin auf Elektronik-Pads, die zeremonielle Rufe auslösen. Dazu kommt die unvergleichliche Stimmfärbung der Sängerin: dunkel und schwebend, warm und angeraut. Besonders eindringlich in ihrer abschließenden Ballade, die sie der Befreiung von den Unterdrückern auf der Welt widmet - besonders der Befreiung Palästinas.
Ungestümer Elektropunk
Nach diesem Avantgardekunst-Nixentechno lassen es Je t'aime ganz ungekünstelt krachen. Sänger dBoy performt wie entfesselt, erinnert in seiner energetischen Melancholie erfrischend an eine verjüngte Punkversion von Depeche-Mode-Frontmann Dave Gahan. Die Elektronikbeats, unterstützt von Livegitarre und Live-E-Bass, stürmen mal ungestüm voran, werfen sich dann wieder in einen dunkel wiegenden Groove. Die Stimme von dBoy wirbelt darin mit großem Charisma; am Ende singt er mitten im Publikum, während die Menge um ihn herumtanzt. Großes Dark-Wave-Kino. Die Planer basteln schon an der nächsten Ausgabe. (GEA)