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Aktuell Musik

Verzweiflung in der Unterwelt

Die Gluck-Oper »Orpheus und Eurydike« konzertant mit dem Philharmonia Chor, der Philharmonie und Solisten

Johanna Pommranz
Johanna Pommranz sang neben der Partie der Eurydike auch die des Amor. FOTO: STRÖHLE
Johanna Pommranz sang neben der Partie der Eurydike auch die des Amor. FOTO: STRÖHLE

REUTLINGEN. Ungewöhnlich ist es, dass in einer Oper zwei Sopranistinnen in tragenden Rollen gefordert sind und sich gleichzeitig kaum begegnen. Für die konzertante Aufführung von Christoph Willibald Glucks »Orpheus und Eurydike« durch den Philharmonia Chor Reutlingen in Verbindung mit der Württembergischen Philharmonie und Solisten am Sonntag in der Reutlinger Stadthalle war es zugleich die Rettung. Denn nach der krankheitsbedingten kurzfristigen Absage von Johanna Kapelari, die für die Rolle des Liebesgotts Amor eingeplant war, war es an Johanna Pommranz, diese Partie mit zu übernehmen. Die Eurydike sang Pommranz wie vorgesehen außerdem.

Es gab noch eine weitere Personalie, die – neben erheblicher Flexibilität – zusätzlichen Organisations- und Vorbereitungsaufwand von den Betroffenen forderte: Mit dem aus Südkorea stammenden Countertenor Kiuk Kim zauberte Dirigent Martin Künstner einen mehr als würdigen Ersatz für den ebenfalls erkrankten Yosemeh Adjei, der eigentlich den Orpheus singen sollte, aus dem Hut.

Mit wacher Präsenz

Ob das etwas werden würde, fragte man sich, als Künstner vorab an den Bühnenrand trat und diese Ankündigungen machte. Es wurde eine ausgesprochen packende Aufführung. Die wache Präsenz jeder und jedes Einzelnen förderte eine großartige, in Reutlingen in dieser Güte nur selten zu vernehmende Musik zutage und ließ das Publikum großen Anteil nehmen an Orpheus’ Versuchen, seine Gattin Eurydike aus der Unterwelt zu befreien.

Ein dankbares Werk ist diese Oper nicht zuletzt für den Chor – er erhielt analog zur französischen Oper eine größere Bedeutung bei Gluck (1714–1787). Einfache Liedformen und Chöre verband er mithilfe eines durchdachten Tonarten-Schemas zu zusammenhängenden Szenenblöcken, wodurch der Chor in die Handlung einbezogen ist.

So erlebte man die Wärme und Mitgefühl verströmenden Chorsängerinnen und -sänger im ersten Akt als um Eurydikes Grab versammelte Hirtinnen und Hirten, in deren Trauergesang sich die Wehrufe des verzweifelten Orpheus mischten. Die über bekannte Formen des Barock hinausgehenden Seufzermotive im Orchester unterstrichen Glucks Anspruch in der Reformoper, Figuren und die Handlung musikalisch authentisch und gefühlswahr darzustellen. Der Komponist der Vorklassik nahm in seinen Werken eindrucksvoll Abschied von den starren Regeln der Barockoper.

Abweisend, lärmend und kühl erlebte man den Chor in der Rolle der Furien, bevor diese in der durchweg auf Deutsch gesungenen Fassung einen Wandel durchmachten. »Welch ein befremdendes, lösendes Zartgefühl sanft überkommt den Sinn, zügelt das Ungestüm unserer Wut?«, tönten sie milder. Orpheus, sprich Kiuk Kim, der begleitet von der Harfe (im Mythos: Leier) wirklich herzerweichend sang, hatte ihren Widerstand gebrochen.

Als Amor hatte Johanna Pommranz die Botschaft von Zeus überbracht, dass Eurydike dem Leben zurückgegeben werde, sollte es Orpheus gelingen, durch die Macht seines Gesangs die Furien zu rühren. Allerdings, so wurde ihm auch beschieden, dürfe Orpheus sich auf dem Rückweg von der Unterwelt nicht nach der Geliebten umdrehen. Ein Konflikt war dadurch quasi vorprogrammiert.

So klar in ihren Ansagen und stimmlich anmutig Johanna Pommranz als Amor im ersten Akt agierte, so erschüttert und verstört – bei makelloser Sangestechnik – erlebte man sie als Eurydike im dritten Akt. Die vom Geliebten aus der Unterwelt Geleitete vermisste Orpheus’ Zärtlichkeit, seinen liebenden Blick.

Fesselnd ausdrucksstark

Martin Künstner spornte die Württembergische Philharmonie und den Chor mit gut gewählten Tempi und differenziertem Klangbewusstsein zu fesselnder Ausdrucksstärke an. Schön, wie schillernd insbesondere das Orchester bis in die Rezitative hinein immer wieder Naturbilder und Seelenzustände zeichnete. Ergreifend auch das Duett von Orpheus und Eurydike, das auf eine längere, drängend zugespitzte Rezitativstrecke folgte. Darin kulminierte die vermeintliche Entfremdung der Liebenden.

Bevor das prachtvolle »Gepriesen sei Amor!« im Schlusschor erklang, musste der Liebesgott den Knoten in beider Herz lösen und die Liebenden auch im Leben wieder vereinen. Insofern war die Ouvertüre, die den Abend mit heiterem Glanz – untypisch für weite Teile der Opernhandlung – in einer einzigen großen Allegrobewegung eröffnet hatte, doch gerechtfertigt. Der Beifall des Publikums, das den Abend über auffallend ruhig und gebannt gelauscht hatte, war übergroß. 

Hervorzuheben ist, dass alle Beteiligten sich mit Herzblut und Können in die Gestaltung der Oper stürzten. Auch an Stellen, an denen die Textverständlichkeit nicht zu 100 Prozent gegeben war, war man als Zuhörer doch immer im Bann der Figuren und der Handlung. (GEA)