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Unter Dauerdruck: Eclat-Festival Stuttgart eröffnet mit Alex-Paxton-Werk

Das Stuttgarter Neue-Musik-Festival Eclat eröffnet mit einem abendfüllenden neuen Werk des britischen Komponisten Alex Paxton. Eine überbordende Feier der Sinnlichkeit war versprochen. Die schlimmsten Befürchtungen traten ein.

Der Komponist und Posaunist Alex Paxton mag's gern bunt, nicht nur bei den Hemden. Hier tritt er bei der Eclat-Eröffnung 2023 au
Der Komponist und Posaunist Alex Paxton mag's gern bunt, nicht nur bei den Hemden. Hier tritt er bei der Eclat-Eröffnung 2023 auf. Auch den Festivalstart am Mittwochabend hat er zu verantworten. Foto: Armin Knauer
Der Komponist und Posaunist Alex Paxton mag's gern bunt, nicht nur bei den Hemden. Hier tritt er bei der Eclat-Eröffnung 2023 auf. Auch den Festivalstart am Mittwochabend hat er zu verantworten.
Foto: Armin Knauer

STUTTGART. Alex Paxton mag’s bunt. Nicht nur, was seine Hemden betrifft. Der 34-jährige britische Komponist und Posaunist hat schon einmal ein Eclat-Festival eröffnet, 2023. Mit seinem Posaunenkonzert »iIlolli-Pop«, in dem er selbst den Solopart übernahm. Wer sonst sollte das auch performen? Von Posaune »spielen« kann bei Paxton ja nicht die Rede sein. Sein Instrument dient ihm als Medium ständiger Überschreitung spieltechnischer, körperlicher und emotionaler Grenzen, und das unter beeindruckender Dauer-Explosivität. Bloß, kann man diese hyperaktive Grenzüberschreitungsästhetik, die ihre Wurzeln im Jazz und in der Improvisation hat, auf komponierte Formen von Orchester- und Vokalmusik so einfach übertragen?

Auch in diesem Jahr hat Paxton das Eclat-Festival eröffnet, das bis Sonntag im Stuttgarter Theaterhaus stattfindet. Diesmal mit einem abendfüllenden Werk für sechs Stimmen, großes Ensemble und Elektronik. Christine Fischer, Intendantin der Veranstalterin »Musik der Jahrhunderte«, kündigte das Werk in ihrer Festivaleröffnung so an: Es sei eine »überbordende, hochvirtuose, den Interpret:innen kaum Machbares abverlangende manisch-magische Feier der Sinnlichkeit«. Das machte Angst. Und die schlimmsten Befürchtungen traten ein.

Wie man seine Sexualität isst

Paxtons 105 Minuten (!) langes Werk verspricht im Titel eine Antwort auf die Frage »How to eat your Sexuality« (Wie du deine Sexualität essen kannst). Eine Anspielung auf die Triebsublimierungsausrichtung des bürgerlichen Konzertwesens? Darf man nicht erwarten.

Der Titel stellt sich bald als Nonsens heraus, wie alle Texte, die Paxton in diesem Stück vertonte. (Ob sie von ihm selbst stammen oder von einer KI lässt das Programmheftchen leider offen.) Aber Stichwort »Sexuality«: Was möchte er im Folgenden assoziiert haben? Im ersten der drei großen Teile, den die sechs Stimmen (die Neuen Vocalsolisten) alleine zu bestreiten haben (sieht man ab von gelegentlich zugespielter jazziger Konserve), ist von einem adoptierten Welpen die Rede, weswegen das Sextett Gejaule und Kläffen zu imitieren hat und Hündchenpfote zeigt. Lange Phasen steht die Sopranistin Johanna Vargas unter schier unerträglichem Dauer-Hochtondruck und wird wie alle Stimmen auch noch elektronisch verstärkt. Ihr Sopran fräst sich ins Gehör, die anderen fünf Stimmen, besonders die Männer, vergrummeln unter diesem Dauerstress phasenweise völlig. Stimmen sind eben keine Posaunen. Das ist einfach schlecht komponiert.

Alles erklingt gleichzeitig

Der zweite Teil, jetzt nur fürs 19-köpfige Instrumentalensemble, bietet dann eine andere Art der Dauertorpedierung: 45 Minuten wirre, schräge Akkumulation unterschiedlichster musikalischer Gedankensplitter, die alle gleichzeitig erklingen wollen. (Absurd: Man sieht einen Perkussionisten ein Zeitungsblatt zerreißen, hört das aber nicht.)

Ja, es klingt sehr virtuos, was das Klangforum Wien in der Leitung von Vimbayi Kaziboni da hinlegt. Aber was steckt hinter diesem Dauer-Klang-Orgasmus, der immer mehr ermüdet, weil Paxton offenbar noch nie von einer Dynamikbezeichnung unter dem Fortissimo gehört hat? Das geht auch im dritten und letzten Teil fürs Tutti so weiter. Da hat sich das hörende Hirn längst ausgeschaltet.

Englisches ohne Übersetzung

Eclat hat sich schon seit Längerem aus der Vermittlung ihrer Inhalte verabschiedet. Einführungsveranstaltungen finden nicht mehr statt. Die Programmhefte enthalten nur noch Plattitüden. Man macht sich zwar die Mühe einer Übertitelung, zeigt aber nicht die deutsche Übersetzung, sondern verdoppelt die auf Englisch gesungenen Texte. Das ist Klassismus pur.

Stolz brüstet sich Christine Fischer damit, ein Festival »ohne Thema« zu bieten. Die Komponierenden erhalten offenbar Cartes-blanches-Aufträge. Aber in einer Zeit des musikalischen »Anything goes« einerseits und radikalen Kulturkürzungen andererseits ist so eine Einstellung fahrlässig. Das üppig anwesende Publikum fühlt sich aber offenbar wohl in seiner Neue-Musik-Blase. Paxtons Machwerk wird lange bejubelt. (GEA)